„ALLE MEINE STÜCKE“


Brecht, Strehler und das Piccolo Teatro: eine 60 Jahre lange Geschichte

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Paolo Grassi, Bertolt Brecht und Giorgio Strehler (v.l.) in Mailand 1956

Mailand – Nein, ein Pferd, das passte nicht in die Neuinszenierung der Dreigroschenoper am Piccolo Teatro, die Damiano Michieletto ganz in die Gegenwart transportiert hat. Der Regisseur bleibt zwar dem Originaltext weitgehend treu, verzichtet aber auf den reitenden Boten, der die Nachricht von der Amnestie überbringt und Mackies Kopf rettet. Der Bote kommt zu Fuß mit einem Aktenkoffer voller Geld ( – siehe die Besprechung der Inszenierung „Korrupt sind wir alle“). Ein Pferd gab es noch bei der ersten Aufführung der Dreigroschenoper am Piccolo Teatro 1956 durch Giorgio Strehler. Mit dieser Inszenierung begann eine 60 Jahre lange Geschichte von Zuneigung und Misstrauen zwischen der Mailänder Bühne, Brecht und dem Suhrkamp Verlag, bei der manchmal – zumindest verbal – die Fetzen flogen.

Die internationale Öffnung

Diese inzwischen als mythisch erinnerte Inszenierung hatte in der italienischen Bühnenszene die Wirkung eines Weckrufes. Giorgio Strehler, der zusammen mit dem Impressario Paolo Grassi das Piccolo 1947 in einem kleinen ehemaligen Kino der Mailänder Innenstadt als „ein Theater der Kunst für alle“ gegründet hatte, wollte das italienische Theater nach über 20 Jahren Faschismus erneuern. Er legte einerseits die verschüttete Tradition der Commedia dell’Arte – etwa mit der Inszenierung Goldonis „Diener zweier Herren“ – frei und brachte andererseits die internationale Dramaturgie nach Italien. Von Shakespeare über Gorki bis eben zu Brecht.

Bertolt Brecht selbst kam im Februar 1956 nach Mailand, um am Piccolo einigen Proben und einer Aufführung der „Opera da tre soldi“ beizuwohnen. Er war von Strehlers Arbeit so begeistert, dass er am 10.2.56 einen kurzen Brief schrieb: „Lieber Strehler, ich wollte, ich könnte Ihnen in Europa alle meine Stücke überlassen, eines nach dem anderen.“ War das mehr als ein freundliches Lob? Der Autor konnte sich nicht mehr erklären, er starb kurz darauf.

Eine Art Freibrief

Für Strehler und Grassi bedeuteten diese Worte eine Art Freibrief, sich die Exklusivität an den Werken Brechts in Italien zu sichern. Strehler brachte an den folgenden 20 Jahren eine ganze Reihe von Brecht-Stücken am Piccolo heraus. Darunter 1973 eine zweite Fassung der Dreigroschenoper, die ganz auf die Wirkung der Songs ausgerichtet war und bei der die rothaarige Milva in der Rolle als Jenny Furore machte. In jenen Jahren kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Suhrkamp Verlag, der aus den Zeilen Brechts nicht den Exklusivanspruch herauslesen wollte, wie ihn Strehler und Grassi für sich reklamierten und der nach dem Tod von Helene Weigel 1971 auch deutlich eingeschränkt wurde.

1979 schrieb ein verbitterter Strehler einen Brief an Helene Ritzerfeld, die langjährige Leiterin der Abteilung Rechte und Lizenzen von Suhrkamp. Darin beklagte er sich über die Art und Weise, wie Brecht inzwischen bei Inszenierungen etwa in Rom oder L’Aquila als ein Klassiker behandelt werde, der nichts mehr zu sagen habe. Wie es ebenfalls „auf schmähliche Art“ in Deutschland passiere, wo „all die Theater Heute, all die Kaiser, Karasek und die ganze Mafia des Horrortheaters es lieben, Othello als King Kong zu verkleiden, Ophelia und Gertrude im Hamlet als Lesben darzustellen oder Miranda und Prospero einen Inzest anzudichten.“ Ein Brecht würde sich im Grabe herumdrehen. Und wenn es in Europa oder zumindest in Italien einen Orte gäbe, wo das Theater Brechts in Ehren gehalten werde, dann sei es das Piccolo Teatro.

Puntila am Teatro Elfo Puccini

Die Auseinandersetzung, die mit vielen polemische Briefen und Telegrammen geführt wurde, ist in dem Buch „Brecht e il Piccolo Teatro“ nachzulesen, das Alberto Benedetto gerade im Mailänder Mimesis Verlag (193 Seiten, 18 Euro) herausgebracht hat. Nach dem Tod aller Beteiligten – Strehler starb 1997 – ist Gras über die Sache gewachsen. Brecht wird im ganzen Land gespielt, gerade konnte man eine wundervolle Inszenierung des Puntila am Teatro Elfo Puccini, der zweiten wichtigen Mailänder Bühne, erleben. Aber die neue Version der Dreigroschenoper, die noch bis zum 11. Juni im großen Haus des Piccolo (Teatro Strehler) zu sehen ist, steht wieder einmal an einem Wendepunkt in der Entwicklung des Theaters.

Der Nachfolger Strehlers als künstlerischer Leiter, Luca Ronconi, starb vor etwas über einem Jahr. Die Michieletto-Inszenierung ist Abschluss und Höhepunkt der ersten Spielzeit danach. Sie war von Ronconi zwar noch mit vorbereitet worden, wird aber neben dem Intendanten Sergio Escobar bereits von Stefano Massini, dem neuen „künstlerischen Berater“, verantwortet. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bühne, dass ein Dramaturg und kein Regisseur diese Rolle übernommen hat. Massini ist Autor etwa von „Lehman Trilogy“, der letzten Regiearbeit von Ronconi. In dieser Spielzeit zeigte das Piccolo auch eine Inszenierung seines Stückes „Sette minuti“ (Sieben Minuten) über einen Gewerkschaftskampf. Die Arbeiten des 40jährigen Dramaturgen sind Ausdruck einen neuen Tendenz: Die Rückkehr zum Wort. Jahrzehntelang spielten auf den Bühnen des Landes ein eher dem Körper und dem Experiment verpflichtetes Theater die Hauptrolle. Jetzt werden wieder mehr Geschichten erzählt.

Das inzwischen richtig große Piccolo

Und das Publikum reagiert mit wachsendem Zuspruch. Auch weil eine Bühne wie das Piccolo mit einem reichen Angebot von Nebenveranstaltungen – im Fall der Dreigroschenoper unterstützt unter anderem auch vom Goethe-Institut der Stadt – in einem breiten Umfeld verankert ist. Zugleich ist es als „Teatro d’Europa“ international vernetzt. Während der Spielzeit 2014/15 haben 300.000 Besucher Inszenierungen auf den drei Bühnen des Piccolo besucht. Das Theater hat mehr Abonnenten (25.000) als jeweils die Mailänder Fußballclubs AC Milan und FC Inter in dieser Saison Dauerkarten abgeben haben. So kann der Jahresetat von zuletzt 19,7 Millionen Euro auch mit Hilfe von Sponsoren fast zur Hälfte eigen finanziert werden. Die andere Hälfte schießen die öffentliche Hand (Stadt, Region, Staat) und Einrichtungen wie die Handelskammer zu.

Gerade ist dem Piccolo als einzigem von der öffentlichen Hand geförderten Theater in Italien ein Autonomiestatus zugebilligt worden, der von bürokratischen Gängelungen befreit und Sicherheit bei der finanziellen Unterstützung durch das Kulturministerium garantiert. Das Piccolo hat sich so aus kleinsten Anfängen zum größten und wichtigsten Betrieb des italienischen Sprechtheaters entwickelt. Dass das ein bisschen auch mit Brecht zu tun hat, gehört zu einer Geschichte, die gerade auf erfrischend gegenwärtige Weise erinnert wird. Zu den Rahmenveranstaltungen der „Opera da tre soldi“ gehört auch eine Installation mit Videos und Fotografien im neuen kleinen Ausstellungsraum des Theaters „Rovellodue“, die 60 Jahre Brecht am Piccolo wach werden lässt.Layout 1

https://www.piccoloteatro.org/