Antonia Pozzi: Die Poesie der Fotografie


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Wäscherinnen am Mailänder Naviglio Grande 1938

Mailand (Spazio Oberdan bis 6.1.). In den 1930er-Jahren war das Fernsehen kaum mehr als ein Versprechen auf die Zukunft. Und der Film blieb vom technischen Aufwand her ein schwerfälliges Unterfangen. Es war die Fotografie, die eine Hauptrolle bei der Dokumentation von gesellschaftlichen Vorgängen zu spielen begann. Mehr noch: Immer handlichere Fotoapparate ließen sie auch für den nicht professionellen Einsatz interessant werden. Die junge Antonia Pozzi, 1912 in Mailand geboren und in einer Familie des Bildungsbürgertums aufgewachsen, war dabei, diesen Weg vom Amateurhaften zum Professionellen einzuschlagen. Auf einer Ausstellung der Fondazione Cineteca Italiana mit dem Titel Sopra il nudo cuore („Über dem nackten Herzen“) kann man in dem Spazio Oberdan  ihre Fotos entdecken.

Mit ihren Arbeiten dokumentierte sie unter anderem die Lebens- und Arbeitsbedingen in den Vorstädten Mailands aber vor allem und in den ländlichen Gegenden der Lombardei und Liguriens: Wäscherinnen, Feldarbeiter, Bergbauern und immer wieder landschaftliche Impressionen. Deutlich wird bei den rund 300 Exponaten ihr Blick für Situationen wie für Stimmungen zuletzt aus den Jahren 1937/38. In vielen privaten „Schnappschüssen“, mit Aufnahmen ihrer familiären Umgebung aber auch von ihren Reisen etwa nach Venedig, Rom oder ins Ausland (England, Afrika) hatte sie sich vorher gleichsam eingeübt. Und je ernsthafter sie sich mit dem Medium auseinandersetze, desto poetischer wurden ihre Fotografien.

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Antonia Pozzi (1912-1938)

Auf der Suche nach Identität
Und das war kein Zufall. Antonia hatte an der Universität Mailand in Sprachwissenschaft promoviert – sie sprach auch fließend Deutsch – und früh angefangen, literarisch zu arbeiten. Es entstanden vor allem Gedichte, in denen sie sich auf der Suche nach Identität mit ihren Gefühlen, aber auch mit ihrer Zeit auseinandersetzte.  Zu ihrem Bekanntenkreis zählten Intellektuelle wie Vittorio Sereni, Remo Cantoni oder Alberto Mondadori. Doch schmerzliche Liebesbeziehungen, die geringe Wertschätzung ihrer Lyrik und dazu die politischen Schatten jener Jahre unter dem Faschismus schwächten ihre Lebenskraft. Als dann auch in Italien Rassengesetze erlassen werden, nahm sie sich – obgleich Nichtjüdin – 1938 mit 26 Jahren das Leben. Sie hinterließ über 300 Gedichte, die erst von den 1980er-Jahren wiederentdeckt wurden. 2008 erschien auch eine deutsch-italienische Ausgabe im Wallstein Verlag. Ihr Fotoarchiv mit rund 4000 Drucken und 12 Alben wird von der Universität Insubria (Varese) verwaltet. Über die Ausstellung hinaus belegt der schöne Katalog (herausgegeben von Giovanna Calvenzi und Ludovica Pellegatta) die poetische Kraft der Fotografien von Antonia Pozzi.

Sopra il nudo cuore. Spazio Oberdan, Mailand, bis 6.01.2016. Katalog, Silvana Editoriale, 28 Euro