AUS ALLEN HIMMELSRICHTUNGEN


„Venedig, die Juden und Europa“- eine Ausstellung im Palazzo Ducale 

copyright: fmc Venezia/Ca' Pesaro

Marc Chagall „Rabbino N.2 (1914/1922)

Venedig (Palazzo Ducale bis 11. November) – Es ist heute als Historiker nicht leicht, sich mit der Gründung des ersten jüdischen Ghettos der Geschichte auseinander zu setzen. Vor 500 Jahren richtete die Republik Venedig ein Stadtviertel ein, in dem die Angehörigen einer religiösen und kulturellen Minderheit zwangsweise siedeln mussten und in dem sie einer Reihe von Restriktionen unterworfen waren. „So schrecklich das klingt in unseren Ohren,“ sagt der Leiter des Deutschen Studienzentrums Venedig Romedio Schmitz Esser, „ist dieser Abschluss auch ein Bekenntnis zum Zusammenleben.“ Die Stadt stellt einen Ort bereit, an dem die jüdische Minderheit leben muss – und kann. Einerseits ein Abschluss, andererseits „integriert man die jüdische Gemeinschaft in die venezianische Gesellschaft.“ Während Juden aus anderen Ländern vertrieben oder verfolgt wurden.

Das ist auch die These der Ausstellung Venezia, gli ebrei e l’Europa im Dogenpalast. Donatella Calabi, die Stadtgeschichte an der IUAV, der technischen Universität Venedig, unterrichtet, hat sie kuratiert. „Venedig, die Juden und Europa“ möchte zeigen, wie die jüdische Minderheit angeregt wurde, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte mit dem Mittelmeerraum und ganz Europa aufzubauen. Außerdem wird dargestellt, dass die kosmopolitische Gesellschaft Venedigs sich ebenso im Inneren des Ghettos widerspiegelte.

Juden im Dienst der Republik

Denn hier lebten Juden aus allen Himmelsrichtungen, aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen zusammen. Was in der Ausstellung etwa Einrichtungsgegenstände aus fünf verschiedenen Synagogen des Ghettos illustrieren. Präsentiert werden zudem prächtige Druckwerke, die die Bedeutung der hebräischen Sprache für das Verlagswesen der Stadt und damit für den kulturellen Austausch unterstreichen. Und Dokumente belegen, wie jüdische Kaufleute aus dem Ghetto besonders im 17. und 18. Jahrhundert etwa als Diplomaten im Dienst der Republik Venedig unterwegs waren.

Der Ausstellung gelingt es, mit reichhaltigem historischen Material und mit Hilfe digitaler Technologien und Videoanimationen die Geschichte des Ghettos nachzuerzählen. Von der Gründung über die Ausweitung und die architektonische Gestaltung bis zur Auflösung des Ghettos unter Napoleon und der anschließenden Integration der jüdischen Minderheit in die Gesellschaft Venedigs. Zum Teil großformatige Gemälde unter anderen von Giovanni Bellini oder Vittore Carpaccio, Francesco Hayez oder Marc Chagall zeigen Motive aus der Geschichte Venedigs oder belegen die oft karikaturhafte Darstellung der Juden in der christlichen Kunst.

Ein religiöses und kulturelles Zentrum

Die Ausstellung, die den Holocaust nicht ausblendet, ihn aber auch nicht in den Vordergrund stellt, schließt mit einem positiven Akzent. Am Ende steht ein großes Foto, das nach der Befreiung 1945 die Wiederaneignung des Ghettos durch die Jüdische Gemeinde zeigt. Selbst wenn heute nur noch wenige Juden im Viertel leben, ist das Ghetto 500 Jahre nach der Gründung mit Museum, Schule, Altersheim und mit den Synagogen nach wie vor ihr religiöses und kulturelles Zentrum.

Venezia, gli ebrei e l’Europa 1516-2016. Palazzo Ducale bis 11. November. Katalog Marsilio 70 Euro in der Ausstellung (80 Euro im Handel)

Zur Ausstellungseröffnung hat der Deutschlandfunk / Kultur heute am 19. Juni einen Beitrag gesendet.

Siehe auch auf Cluverius das Interview mit Romedio Schmitz-Esser sowie den Beitrag zur Gründung des Ghettos im März 1516