DER FLUCH DES CORREGGIO


Unterwegs im Gebiet zwischen Mantua, Carpi und Ferrara, wo eine reiche Kulturlandschaft durch mehrere Erdstöße schwer verletzt wurde – und der Boden bebt immer noch

Wie durchschnitten – der Stadtturm von Finale Emilia

Carpi / Ferrara / Mantua (22. Juni 2012) Herrscht Krieg? Wie nach einem Fliegerangriff liegen Häuser längst der Allee von der San Felice nach Finale Emilia in Schutt und Asche, andere stehen aufrecht, als hätten die Bomben sie verfehlt. Vier Wochen nach dem schweren Erdbeben in Norditalien patrouillieren immer noch Soldaten im Geländeanzug zusammen mit bewaffneten Carabinieri innerhalb der Ortschaften vor den total gesperrten „roten Zonen“. Feuerwehrleute bewegen bei Aufräumarbeiten schwere Kranwagen. Allgegenwärtig sind die Kräfte des Zivilschutzes in ihren dunkelblauen Uniformen, sie wachen auch vor den Eingängen der kleinen Zeltsiedlungen, die sich in den besonders betroffenen Gemeinden gebildet haben.

Das Rote Kreuz hat unter der müde in warmer Luft herabhängender Fahne Informationsstellen eingerichtet. Die Ortsverwaltungen sind aus zerstörten oder für unbenutzbar erklärten Rathausgebäuden wie in Carpi in notdürftig hergerichtete Schulen am Stadtrand umgesiedelt worden. In San Felice hat man für das Postamt Container aufgestellt. Und überall versuchen die Gemeindepolizisten dem Verkehr Herr zu werden, der durch die vielen Straßensperrungen und Umleitungen, immer wieder ins Stocken gerät.

Ein erste Welle Ende Mai

Vor gut einem Monat, am 20. Mai, schreckt eine erste Welle von Erbeben die Bewohner Norditaliens in der mittleren Poebene zwischen Mantua, Modena, Ferrara und Rovigo aus morgendlichem Schlaf. Der schwerste Erdstoss wurde mit 5,9 Grad auf der Richterskale gemessen und lag damit an der Grenze zwischen einem „mittleren“ und einem „schweren“ Beben. Was das heißt, erlebten die Bewohner: Dächer stürzten ein, ganze Häuser brachen zusammen, Stadttürme wurden gleichsam geköpft. Schwere Schäden entstanden an historischen Bauten, an Kirchen und Burganlagen, an denen die Gegend, die Federico Fellini in seinem Film „Die Stimme des Mondes“ porträtiert hatte, so reich ist. Neun Tage später gab ein weiterer Stoss mit 5,9 Grad Richter vielen bereits betroffenen Gebäuden den Rest. 26 Menschen starben, wie Don Ivan Martini in Rovereto di Novi, der versucht hatte, aus seiner Kirche Kunstschätze zu retten. 350 Personen wurden zum Teil schwer verletzt, Zehntausende mussten evakuiert werden. Und die Erde ist seitdem nicht zur Ruhe gekommen. In den vergangenen Tagen wurden wieder Beben bis zu 3,5 Grad Richter gemessen.

Not macht erfinderisch

Gegen Schlaflosigkeit aber auch zur Unterdrückung von Angstzuständen hilft „Escolzia“ (Kalifornischer Mohn). Das kann man jedenfalls auf einer Reklametafel lesen, die in Carpi vor einer Drogerie aufgestellt ist. Not macht erfinderisch und belebt manchmal das Geschäft. Die evakuierten Menschen trauen den Beteuerungen der Gemeinden nicht, die in Häusern „erbebensichere“ Übernachtungsplätze anbieten. Einige haben sich Privatzelte in den Gärten aufgestellt, kleine Holzhütten gar oder schlafen lieber im Auto. Jetzt werden sie nach den sintflutartigen Regenfällen der vergangenen Woche von einer afrikanischen Hitze geplagt, die in den feuchten Niederungen der Poebene leicht 36, 37 Grade Celsius erreichen kann.

Unter der drückenden Hitze liegt etwa das Stadtzentrum von Carpi zur Mittagszeit völlig verwaist. Die rund 70.000 Einwohner große Stadt nordwestlich von Modena musste zwar keine total gesperrte „zona rossa“ einrichten, weil viele Gebäude(wie der romanische Glockenturm von Santa Maria in Castello) in den vergangenen zehn Jahren konsolidiert wurden. Doch die architektonisch spektakuläre Piazza dei Martiri zwischen dem Palazzo del Pio (der aus einer mittelalterlichen Zitadelle hervorgegangen ist), den Renaissancearkaden und der barocken Domfassade ist weitgehend abgesperrt. Der Kuppeltambour des Doms zeigt lange Risse, vom Palazzo del Pio sind Schwalbenschwanzzinnen herabgestürzt, viele Geschäfte der Arkaden wurden für „inagibile“, unbegehbar erklärt.

Eine Wirtschaftszone ging in die Knie

Mit verzweifelt formulierten Zetteln an den Absperrungen, weisen die Läden und Restaurants, die nicht betroffen sind, darauf hin, dass sie geöffnet haben. Auch das Theater musste geschlossen werden. Alle Aufführungen, kann man auf dem Aushang lesen, sind „bis auf Weiteres ausgesetzt“. Neben den materiellen Schäden wurde eine ganze Wirtschaftszone (Landwirtschaft, Feinmechanik und pharmazeutische Geräte) in die Knie gezwungen. Nach ersten Schätzungen sind 5000 Betriebe mit insgesamt 25.000 Beschäftigten betroffen. Der Schaden wird mit umgerechnet rund fünf Milliarden Schweizer Franken angegeben. Moralischen Beistand erhielten die Bewohner durch einen schnellen Besuch von Staatspräsident Giorgio Napolitano. Am Sonntag wird der Dalai Lama erwartet und am Dienstag kommt der Papst nach Carpi und Rovigo.

Das Erbeben hat vor allem eine von Kultur durchsättigte Landschaft getroffen. Wenn man die Linie der größten Zerstörungen verfolgt, so bewegt man sich auf einer Verkehrsachse, welche die Stadt Correggio in der Provinz Reggio Emilia mit dem Ort Mirabello in der Provinz Ferrara verbindet. Das ist die sogenannte „Strada del Correggio“, des begnadeten Renaissancemalers Antonio Allegri (1485-1594), der nach seiner Heimatstadt benannt wurde. Sie führt unter anderem durch Mirandola, dem Hauptort eines klitzekleinen Staates der Renaissance. Aus dem Herrschergeschlecht des Städtchens stammte auch der berühmte Mathematiker Pico della Mirandola (1463-94). Hier sind gleich drei historische Kirchen aufgerissen worden wie Tiere beim Schlachten. Die Fassade der gotischen Chiesa del San Francesco und Teilen der Deckenkonstruktion sind eingefallen und man blickt in die Apsis wie in eine ausgeweidete Karkasse.

„Ciao Torre“ – ein Abschiedsbrief

In Finale Emilia an der Strada del Correggio hat das ersten Beben den 800 Jahre alten Stadtturm, die Torre dei Modenesi, zur Hälfte einstürzen lassen, als wäre er von der Uhr an der Spitze bis zur Basis mit einer gigantischen Axt durchteilt worden. Das zweite schwere Beben neun Tage später brachte ihn ganz zum Einstürzen. „Ciao Torre“ steht auf einem „Abschiedsbrief“, den die Bewohner von Finale am Zaun vor den Trümmern an einem Absperrgitter festgemacht haben. Darin versprechen sie dem Turm, ihn bald wieder aufzurichten. Die nahen Häuser haben die einstürzenden Mauern nicht getroffen. Aber einige Autos total zerstört. Die meisten Wracks wurden am vergangenen Mittwoch von Feuerwehrleuten im Licht der Abendsonne geborgen und abtransportiert.

Correggio hatte auch auf der anderen Seite des Po in Mantua gearbeitet, und als sei dieser Maler zu einem Fluch geworden, musste auch das stolze Mantua mit seinen Prachtbauten Schäden hinnehmen. Die Laterne des Glockenturms von Santa Barbara, die hunderte Jahre lang die Skyline der Herzogsstadt am Mincio-Fluss geprägt hatte, stürzte ein. Ein Riss geht quer durch das berühmte Mantegna-Fresco in der Camera degli Sposi des Palazzo Ducale. Im Palazzo Te wurden Stuckarbeiten beschädigt. Dort wie im Palazzo Ducale sind jetzt einige wenige Räume (gratis) für Touristen wieder geöffnet worden. Zudem hat man beschlossen das international bedeutende Literaturfestival wie geplant vom 5. bis 9. September durchzuführen.

Verletzungen in Ferrara

Ähnlich ergeht es der Stadt Ferrara, Weltkulturerbe wie Mantua. Obgleich hier dramatische Zerstörungen zum Glück ausgeblieben sind, bleiben viele historische Gebäude geschlossen, das Theater musste seinen Spielbetrieb einstellen, die Universität den Lehrbetrieb unterbrechen. Eine großartige Kulturstadt ist nicht zerstört aber doch tief verletzt worden. Das hat auch dazu geführt, dass Wirtschaftszweige wie der Tourismus dramatische Verluste hinnehmen müssen. Und das nicht nur in den betroffenen Gebieten, sondern auch an der Adria-Küste bis weit über Venedig hinaus. Und sogar an den oberitalienischen Seen werden Buchungen storniert.

Kritisch fragte Salvatore Settis in einem Beitrag für die römische Tageszeitung la Repubblica, ob Italien nicht endlich einmal anfangen wolle aus seiner „zerbrechlichen“ Lage zu lernen, wo Erdrutsche an der Tagesordnung sind und seit der staatlichen Einigung vor 150 Jahren 34 schwere und rund 100 mittlere Erdbeben den Boden erschüttert haben – zuletzt in Umbrien 1997 und in den Abruzzen 2009. Statt der Ideologie der Neubauten und der Großprojekte zu folgen, soll es endlich anfangen, seine historischen Bauten besser zu schützen. Es komme darauf an, wie es bereits Staatspräsident Giorgio Napolitano gefordert hatte, von Notstandsmassnahmen zur Vorbeugung und Wartung über zu gehen. „Wir müssen uns mehr um unseren Boden kümmern“, sagt auch der Krimiautor Carlo Lucarelli aus Parma. Es gehe darum, „ihn lieb zu gewinnen“ und jetzt aufpassen, damit er nicht unter dem Schlagwort des schnellen Wiederaufbaus „mit Zement übergossen“ werde.

Und der Wiederaufbau?

Die Notstandsphase ist zwar, wie die Aufräumarbeiten zeigen, noch nicht abgeschlossen, aber man denkt bereits an den Wiederaufbau. Giovanni Gnoli, der Stadtarchitekt der Gemeine Carpi, sagt im Gespräch mit dieser Zeitung, dass als allererstes Schulen und Krankenhäuser wieder hergestellt werden müssen. Außerdem sei man dabei, eine Prioritätenliste für die Kulturgüter aufzustellen. Größere Orte, die sich der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein können, werden dabei eine Vorreiterrolle übernehmen. Aber die Wiederherstellung der vielen weniger kunsthistorisch herausragend Kirchen, Burgen, Stadttürme und Landhäuser, die aber die Seele dieser Kulturlandschaft bilden, wird noch Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nehmen und einige sind für immer verloren.

Wenn man durch die Strassen des Modenese und des Ferrarese fährt sieht man um die zerstörten Orte und Gebäude eine geradezu frech aufblühende Landschaft. Der hellbraune Weizen steht kräftig, grün leuchten Bäume und Sträucher, rot glüht der Mohn, die Wiesen sind von gelben Blumen übersät. Die Natur zeigt sich kerngesund, die Kultur krank und verletzt – und die Erde hört nicht auf zu beben.