DIE GRÜNE STADT AM MEER


Sardinien und der kulturelle Aufbruch der Regionalhauptstadt Cagliari

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Wallfahrtskirche in Cagliari – Basilica La Nostra Signora di Bonaria

Cagliari (16.12.2013) – Die Altstadt von Cagliari liegt innerhalb historischer Befestigungsanlagen auf einem felsigen Hügel am Golfo degli Angeli im Süden von Sardinien, der zweitgrößten Insel des Mittelmeers. Zu Füßen des Hügels dehnen sich nach Osten wie nach Westen Lagunen aus, in denen früher Salz gewonnen wurde und heute Flamingos brüten. Vom Hafen zieht sich die Marina, eine ehemalige Fischersiedlung, zum Kastell und zur Oberstadt hoch. Reisende, die sich einst Cagliari vom Meer her näherten, sahen wie D.H. Lawrence „eine nackte Stadt, die sich steil und vergoldet aus der Fläche inmitten der gestaltlosen, tiefen Bucht aufreckt.“ Der Engländer, der Sardinien zusammen mit seiner deutschen Frau Frieda von Richthofen kurz nach dem ersten Weltkrieg bereiste, empfand die Hauptstadt der Insel „fremdartig, fast schön, überhaupt nicht italienisch.“ Ein Ort „verloren zwischen Europa und Afrika, keinem zugehörig.“ Sein Buch „Das Meer und Sardinien“, das nach dieser Reise entstand, prägte lange Zeit das Sardinienbild der europäischen Öffentlichkeit. Das war eine Reise in ein mittelalterlich anmutendes Leben, „das in sich ruht und kein Interesse an der Welt draußen hat.“

Als im Hinterland die Zeit stehen blieb

Cagliari hat dabei immer eine Sonderolle gespielt, weil die Eroberer vom Festland – Römer und Pisaner, Spanier und Piemontesen – den Ort als Herrschaftssitz nutzten. Sie hinterließen hier wenigstens Spuren von Fortschritt, während im sardischen Hinterland die Zeit buchstäblich stehen blieb. Noch heute sagt man, dass die Hafenstadt der Insel den Rücken zuwendet. Sie ist mit ihren rund 350 000 Einwohnern (das städtische Umland mit gerechnet) im dünn besiedelten Zentrum und im Norden der autonomen Region Sardinien nicht sonderlich gelitten, wo man sogar andere Sprachen spricht. Neben dem Italienischen haben sich auf der Insel drei eng verwandte aber dennoch eigenständige neolateinische Sprachen erhalten: Gallurese im Norden, Logodurese im Zentrum und Campidanese im Süden.

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Strand von Cagliari – im Hintergrund das Vorgebirge mit der „Sella del Diavolo“

Der Münchener Romanist Max Leopold Wagner, der Sardinien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kreuz und quer bereiste, erwarb sich den Ruf als bedeutendster Kenner der Inselsprachen. Auf seine Untersuchungen geht das heute noch gültige linguistische Standardwerk zurück. Die Universität Cagliari verweigerte ihm jedoch in den fünfziger Jahren aus kleinlichen Gründen einen Lehrstuhl für sardische Sprache und Kultur. Heute bewirbt sich Cagliari um den Titel einer europäischen Kulturhauptstadt, der 2019 einer italienischen Stadt zufällt. Die sardische Regionalhauptstadt ist gerade in die nationale Endauswahl gekommen, in der sie sich Mitstreitern wie Ravenna oder Lecce, Perugia/Assisi oder Siena erwehren muss. Könnte Cagliari sich durchsetzen, wäre das der Triumph der Peripherie eines Italien, das selbst im Spiel der europäischen Mächte politisch wie kulturell peripher geworden ist.

Kulturelle Narben der Modernisierung

Die Geschichte Sardiniens hatte sich wegen der geographischen und politisch isolierten Lage ein Jahrtausend lang kaum bewegt. Eine sprunghafte, atemberaubende Modernisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterließ kulturelle Narben, als zunächst die Malaria besiegt wurde, das Fernsehen Einzug hielt und die bisherige Isolation wie ein Vorhang zur Seite gerissen wurde. Drei von fünf Bewohnern des bislang einsamen Landesinneren verließen Familienzusammenhänge und Dialekte, um Arbeit in den Küstenregionen oder sogar auf dem europäischen Festland zu suchen. Der Historiker Manlio Brigaglia aus Sassari, der zweiten Universitätsstadt der Insel, nannte diesen Bruch eine „anthropologische Katastrophe“. Giulio Angioni, Anthropologe und Schriftsteller, der 1939 in einem Dorf bei Cagliari geboren wurde, erzählt, er habe noch eine Jugend erlebt, „die näher an der Jugendzeit vor tausend Jahren war als an der von heute.“ Die Frage der Identität ist einer der wichtigen Frage für die Gegenwartsliteratur auf Sardinien. Die 41jährige Autorin des Romans „Accabadora“ Michela Murgia schreibt: „Ich bin Sardin, weil ich an einem vollständig gebrochenen Ort geboren wurde und selbst in Scherben liege.“

Durchsäuerung der Gegenwart mit Archaik

Autoren aus dem Inneren der Insel, etwa aus Nuoro und Umgebung (wo einst Grazia Deledda, Literaturnobelpreis 1926, ihre Romane ansiedelte), haben auf diesen Bruch mit einer Art Durchsäuerung der Gegenwart durch Archaik reagiert. Allen voran der auch im deutschen Sprachraum geschätzte Salvatore Niffoi, der in seinen Romanen wie „Die Legende von Redenta Tiria“ mit einer berauschenden Sprache ein magisches Sardinien beschwört. In Rezensionen wird das gern als Schilderung des „Ursprünglichen“ gefeiert. Es sind besonders Autoren aus Cagliari, die sich gegen dieses Bild des angeblich authentischen Sardinien als Insel der Schäfer und Banditen wehren. Giulio Angioni sagt, er spüre in diesen Texten keinen Ursprung, eher „eine kräftige Dosis García Márquez.“

Aus Cagliari kommen andere Töne. Allein voran die kleine Erzählung „Bellas mariposas“ (Schöne Schmetterlinge) des 1995 jung verstorbenen Sergio Atzeni. Eine zarte und zugleich brutale Beschreibung der Ereignisse eines Tages aus der Sicht eines 12jährigen, frühreifen Mädchens, das in einem Neubaughettos am Rande der Stadt aufwächst. Jugendsprache und Dialekt fließen in einem Text zusammen, der wie ein literarischer Rap wirkt und unübersetzbar scheint – immerhin ist im Frühjahr eine Verfilmung in die italienischen Kinos gekommen. Cagliari ist die Stadt auch der ironisch-erotisch Prosa einer Milena Agus („Die Frau im Mond“), die von Frauen erzählt, die anders leben und lieben wollen, als die Tradition es will.

Sardinien ohne Schafe

Es ist die Stadt eines Giorgio Todde und seiner Justizromane – bei Rizzoli ist in diesem Herbst die bizarr absurde Geschichte „Lettera ultima“ (Letzter Brief) erschienen, in der es um eine Paralleljustiz mit hausgemachter Prozessordnung in einem Mehrfamilienanwesen geht. Und es die Stadt eines Flavio Soriga, der seinen jüngsten Roman über Cagliari stolz „Metropolis“ (Bompiani) nennt. Darin schickte der Autor einen Hauptmann der Carabinieri auf einer Vespa durch die sardische Klein-Metropole mit ihren Kirchen und Bankpalästen, Stränden und Supermärkten, um einen Todesfall aufzuklären. Im Text kommt kein einziges Schaf vor, von denen auf der Insel angeblich drei Millionen Stück (bei 1,6 Millionen Einwohnern) weiden. Dafür etliche Arbeitslose, Figuren vom Rand der Gesellschaft sowie diskret charmante Vertreter der dünnen Oberschicht. Auf Sardinien suchen 16 Prozent der Erwachsenen eine Anstellung (bei einer dramatischen Jugendarbeitslosigkeit von 47 Prozent).

Die Stadt kulturell neu gründen

Cagliari möchte zeigen, dass es Anschluss an die Modernität finden will, ohne seine Wurzeln zu verraten. Seit zwei Jahren regiert hier der 1976 geborene Massimo Zedda, einer der jüngsten Bürgermeister Italiens, an der Spitze einer Mitte-Links-Koalition. Als Kulturstadträtin holte er sich die noch um drei Jahre jüngere Geisteswissenschaftlerin Enrica Puggioni, die zuletzt bei der Europäischen Patentakademie in München gearbeitet hatte. Ihr Ziel ist es, die Stadt auf kultureller Basis polyzentrisch gleichsam neu zu gründen: die einzelnen Viertel sollen durch ein Netz von öffentlichen Einrichtungen (Bibliotheken, Veranstaltungsorte, Museen) und privaten Kulturvereinigungen miteinander verwoben werden. Neue kulturellen Räume sollen entstehen, Start-ups gefördert und Residenzen für Künstler geschaffen werden.

Tor zwischen der mediterranen Welt und Mitteleuropa

Es gehe darum, die Zeichen der Vergangenheit und der Traditionen sichtbar zu machen, „sie wieder lesen zu lernen“ und zugleich neue künstlerische Formen auszuprobieren. Enrica Puggioni spricht dabei gerne von einer „Hybrisierung kultureller Sprachen“. Denn man möchte im Hinblick auf die Bewerbung als europäische Kulturhauptstadt, ein „Tor zwischen der mediterranen Welt und der von Mitteleuropa“ öffnen. Geplant ist auch, das von Mussolini als Bergarbeiterstadt gegründete Carbonia und die inzwischen stillgelegten Gruben der sie umgebenen Landschaft des Sulcis nordwestlich von Cagliari, ins „Hauptstadtprogramm“ mit einzubeziehen.

Ungeduld macht sich breit

All diese hehren und im Detail manchmal theoretisch klingenden Pläne, sind nicht so schnell durchzusetzen in einer Stadt, die jahrzehntelang eher einer kulturellen Brache glich. Ungeduld macht sich breit. Die Erwartungen, das sich etwas verändert, sind groß. Das Geld ist knapp und alles soll möglichst schnell gehen. Hinzukommen nicht immer glückliche Entscheidungen wie eine umstrittene Neubesetzung der Intendanz des Opernhauses. Doch es ist spannend zu sehen, wie eine Stadt hier ohne Megaprojekte gleichsam von unten kulturell neu verankert werden soll. Ein wichtige Rolle spielt dabei das Verhältnis Mensch, Urbanität und Natur. Der Bürgermeister setzt ganz auf nachhaltige Energien, CO2-Reduzierung (180 000 Autos pendeln täglich aus dem Hinterland ein) und die Schaffung neuer Parkanlagen. „Wir sind dabei, unserer Stadt eine neue Lebensqualität zu geben“, sagt er und träumt von Cagliari als einer Smart-City. Kultur, Stadtentwicklung und Natur, so Massimo Zedda, gehörten zusammen. Ihm ist ein langer Atem zu wünschen.

Bausünden, die schmerzen

Was das urbane Netz angeht, muss er sich mit Bausünden auseinandersetzen, die schmerzen. Wenn man bergauf und bergab durch die Gassen läuft oder etwa von der Panoramastraße Viale Buoncammino oberhalb eines römischen Theaters auf die Dächer der Unterstadt blickt, hat man das Gefühl, dass Cagliari anders aussehen könnte. Dass man hätte vermeiden können, wie sich schlechte Architekturen nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges zwischen alte Palazzi drängten oder später in den Vorstädten Schrecken verbreiteten.

Heute sind sie dabei, sogar in die punische Totenstadt auf dem Tuvixeddu-Hügel einzudringen. Der Schriftsteller Giorgio Todde, der sich im nationalen Kulturschutzbund „Italia Nostra“ engagiert, klagt, wie im Weichbild von Cagliari „Tausend Jahre Nichtmoderne“ einfach beiseite geschoben wurden, und die „schwache, sanfte, harmonische Kultur Sardiniens“ nachgegeben hat. Vom falschen „Mittelmeerstil“ der Feriensiedlungen über den „Country Chic“ mancher Kleinstädte, bis zu den nichtssagenden Betonbauten, die die Gräber von Tuvixeddu belagern. Das Sturmtief Cleopatra, das im November im Norden der Insel schwere Zerstörungen anrichtete, hat in der Regionalhauptstadt wenig Spuren hinterlassen. Zerstörerisch wirkt hier vor allem der Mensch. Die Gier der Bodenspekulanten und der Geist von Krämerseelen haben eine wilde Bauwut entfesselt, die nur schwer zu stoppen ist.

Am „drachenschuppigen“ Hügel

Landschaftsarchitekten,wie der Portugiese João Ferreira Nunes, der an der Universität Sassari/Alghero unterrichtet, und der Deutsch-Italiener Andreas Kipar (Duisburg/Mailand) versuchen das dennoch. Als ein erstes Zeichen sind bereits Tausende neuer Bäume gepflanzt worden. Kipar hat der Stadt einen Grünordnungsplan verordnet.

Cagliaris herrliche Lage am Meer, sein kilometerlanger Stadtstrand „Poetto“ und die geplante Öffnung der Hafenfront durch die Verlagerung des Industriehafens bieten ein beneidenswertes Potenzial für die Zukunft. Die Lagunen könnten mit neuer Flora und Fauna belebt und zugleich geschützt werden. Fahrrad- und Fußwege würden sie längs des alten Hafens verbinden und die „Sella del Diavolo“ mit einbeziehen, einen kleiner Gebirgssporn, den Lawrence einen „drachenschuppigen Hügel“ nannte. Die Parks und Gärten in der Stadt sollen wachsen, Palmen und Oleander Raum gewinnen und bislang verschlossene Anlagen, wie die um das antike römische Theater, wieder eröffnet werden. Wenn die Politik durchhält, wird der ganze mediterrane Raum eines Tages Cagliari als grüne Stadt am Meer beneiden.