DIE STEINE VON VENEDIG


John Ruskins monumentale Untersuchung der Baukunst Venedigs im Mittelalter liegt jetzt als Auswahl in einer für den heutigen Leser verständlich gemachten Ausgabe vor.

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Die Piazzetta von San Marco im Winter

Venedig/ Wiesbaden – Als John Ruskin zusammen mit seiner Frau Effie im Herbst 1849 von London aus nach Venedig reiste, hielten Österreichische Truppen die Lagunenstadt in Folge der Unruhen der Jahre zuvor noch besetzt. Während der 22jährigen Effie die Herzen der Gesellschaft zuflogen und sie keine Festlichkeit ausließ, war ihr 30jähriger Mann tagtäglich auch bei widrigen Witterungsverhältnissen mit einem selbstgestellten Arbeitsauftrag unterwegs: die Architektur Venedigs vor allem aus dem Mittelalter zu dokumentieren. So entstanden in drei Bänden zwischen 1851 und 1853 „The Stones of Venice“, eines der erstaunlichsten Werke der frühen Kunstwissenschaft.

Ruskin widmete sich zwischen 2000 bis 3000 Objekten aus Stein (Wände, Reliefs, Tür- und Fensterrahmen, Kapitelle und Gesimse). Er vermaß, zeichnete, fotografierte sie und reproduzierte einige von ihnen in Gipsabdrücken. Dem jungen Kunstwissenschaftler kam es darauf an, das verfallende, das, wie er meinte, „untergehende Venedig“ festzuhalten. Als wichtigstes Indiz für den Verfall galt ihm die Eisenbahnbrücke, die seit 1846 die Inselstadt mit dem Festland verband.

Sachforschung und Geschichtserzählung

Die vollständige deutsche Übersetzung der Mammutarbeit mit rund 1400 Seiten erschien in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Kulturwissenschaftlerin Catharina Berents und der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp, die beide an der Universität Lüneburg unterrichten, haben sich jetzt vor allem auf den erzählerischen Teil der „Steine von Venedig“ konzentriert, ihn neu zusammengesetzt und für den heutigen Leser verständlich gemacht.

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John Ruskin im Jahr 1857

John Ruskin (1819-1900), Sohn eines wohlhabenden Sherry-Importeurs, konnte als Kritiker, Wissenschaftler und Sozialreformer die öffentliche Meinung Englands im viktorianischen Zeitalter wesentlich beeinflussen. Das Mittelalter galt ihm für die künstlerische, politische und wirtschaftliche Entwicklung der Gegenwart als ein Vorbild. In den „Steinen von Venedig“ verbindet er Sachforschung mit Geschichtserzählung. Im ersten Band beschreibt er im einzelnen die Elemente der venezianischen Baukunst im Mittelalter, im zweiten geht es ihm um ihre Anwendung bei einigen Hauptbauten (Palazzo Ducale u.a.), der dritte widmet sich dem „Niedergang“ (nach seiner Sicht) der Baukunst während der Renaissance und enthält außerdem eine Liste der wichtigsten Baudenkmäler, die man besuchen sollte.

Ein Buch für Liebhaber der Lagunenstadt

Catharina Berents und Wolfgang Kemp haben sich bei ihrer Textauswahl vor allem auf den zweiten Band gestützt. Darin ist auch der Essay „Das Wesen der Gotik“, gleichsam eine politökonomische und sozialethische Grundsatzerklärung Ruskins, erhalten. Illustriert wird der Band u.a. mit zeitgenössischen Fotografien aus dem Besitz von John Ruskin, die erst kürzlich wieder aufgetaucht waren. In dieser Form sind „Die Steine von Venedig“ ein für Liebhaber der Lagunenstadt unverzichtbares Buch!

Die „Stones“, die nach der Erstausgabe auch in gekürzter und für Reisende zurecht geschnittenen Fassungen (wie in einer „Traveller’s Edition“) erschienen, wurden in zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für diejenigen Besucher der Stadt zur Pflichtlektüre, die nicht das romantische, sondern das „wahre“ Venedig suchten. (Siehe auch auf Cluverius „Erst wenn man Tag für Tag hier lebt…“) Zu denen zählten auch Autoren wie Henry James, der schrieb, Mr. Ruskin helfe „mehr als jeder andere, die Freuden dieser Stadt zu genießen.“

 

John Ruskin: Die Steine von Venedig. Neu komponiert von Catharina Berents und Wolfgang Kemp. Corso Verlag im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2016. 292 Seiten mit vielen Abbildungen, 48 Euro

Für Liebhaber: Texte aus Ruskins "Stones" in einer kommentierten Auswahl