DIE WELT DER BÖSEN


Maurizio Torchio erzählt in seinem Roman „Das angehaltene Leben“ eindringlich von der irrationalen Logik der Gefängniswelt

"Die eine Orange war das einzige Licht" Aquarell von Egon Schiele (1912)

„Die eine Orange war das einzige Licht“ – Aquarell von Egon Schiele (1912)

Mailand – In der Regel verdrängen wir, dass es eine Welt neben der Welt gibt. Einen Raum am Rand der Gesellschaft, der mit dem gefüllt wird, was die Gesellschaft ausstößt: das Gefängnis. Wie es dort zugeht, will man meist nicht so genau wissen. Manchmal bekommt man Einblicke etwa über Kriminalfilme oder über Berichte hier und da in den Medien. Ein Intellektueller wie Adriano Sofri hatte vor Jahren eine Zeit lang täglich mit kurzen Texten („Piccola posta“) in der Zeitung „Il Foglio“ aus dem Alltag seiner Haftzeit in einer Strafanstalt in Pisa erzählt und Absurditäten und Hässlichkeiten geschildert. Sicher tut man Sofri Unrecht, doch nach der Lektüre des Romans „Das angehaltene Leben“ von Maurizio Torchio erscheinen seine Gefängnisjahre wie ein Sanatorium hinter Gittern. In dem Roman beschreibt ein Gefangener lakonisch eine von Brutalität und Sinnlosigkeit durchdrungene Welt der Weggeschlossenen so dicht, dass man manchmal das Gefühlt bekommt, selbst in einer Zelle zu sitzen.

Die Gesetzmäßigkeiten von Stockwerken und Gängen

copyright privat/Zsolnay Verlag

Maurizio Torchio (47) studierte Philosophie und Soziologie. Sein Roman „Das angehaltene Leben“ wurde mehrfach ausgezeichnet.

Der namenlose Icherzähler ist in diese Welt gekommen, nachdem er an einer Entführung beteiligt gewesen war. Der Ermordung eines Wärters hat ihn dann „ohne Verfallsdatum“ endgültig weggeschlossen, in Einzelhaft gebracht, sozusagen in ein Gefängnis im Gefängnis. „Weil ich seit zwanzig Jahren im Bau bin, bringt man mir großen Respekt entgegen, oberflächlich.“ Im Grunde hält man ihn aber für „einen verblödeten alten Sack“. Aus dieser gleichsam privilegierten Rolle erzählt er rückblickend seine Geschichte, die ihn in den Knast gebracht hat. Vor allem aber beschreibt er die Dynamiken, die Abläufe, die Hierarchien hinter Mauern. Und macht Geräusche und Geographien des Gefängnisses lebendig: Jedes Stockwerk, jeder Gang hat seine eigene Geschichte und eigene Gesetzmäßigkeiten.

Aus einer Einrichtung mit Hunderten Gefangenen schälen sich wenige Charaktere heraus. „Toro“, eine Autorität unter den Insassen, der gelegentlich Freigang hat. „Martini“, der Liebesbriefe an Mithäftlinge verkauft, die eigentlich an ihn gerichtet sind. Der „Comandante“, der Direktor der Strafanstalt, der ein Verhältnis mit der Frau von Martini beginnt. Oder „Piscio“, eine Pädophiler, der sich vollpisst und von allen, dem Erzähler eingeschlossen, verachtet und gequält wird, und sich schließlich die Pulsadern aufbeißt und umbringt. Dazu kommen die „N“, Mitglieder einer mit der Zeit wachsenden organisierten Gruppe, die bald ein ganzes Stockwerk belegen. Es geht um Hass und Rache, um Sadismus und Verachtung. Und um Strategien des Überlebens während eines Zustandes, in dem das Leben gleichsam angehalten wird.

Eine Akademie des Verbrechens

Das ist eine Welt des Bösen und der Bösen – „Cattivi“ („böse“) heißt der Originaltitel des von Annette Kopetzki so glänzend übersetzen Buches. Wobei das Böse sich auch auf die Clique der Wärter und Wächter bezieht, die mit der Gemeinschaft der Gefangenen in einer Art gegenseitiger Abhängigkeit lebt. Jeder ist Henker und Opfer zugleich. Aber was heißt schon „böse“? Das ist ein Begriff, der von außen kommt und im Kerkeralltag sinnlos erscheint. Nur der Comandante sagt einmal bei einem Pressetermin: „Hier sitzen die Bösesten der Bösen.“ Für die Gefangenen eher eine Auszeichnung, sie sehen sich als „Elite“ und ihre Welt hinter Mauern als „Akademie des Verbrechens“. Doch enthält sich der Icherzähler jeder Wertung. Er verurteilt nicht, er moralisiert nicht.

Maurizio Torchio, 1970 in Turin geboren, lebt in Mailand. „Das angehaltene Leben“ ist sein zweiter Roman. Angeblich hat der Autor fünf Jahre an ihm gearbeitet, was glaubhaft klingt.
Er seziert mit einer fast schmerzhaft nüchternen Sprache das Gefängnis, als wäre es ein Körper. Gewiss ist das ein Roman, keine Dokumentation. Vielleicht gerade deshalb geht das Buch unter die Haut.

Maurizio Torchio: Das angehaltene Leben. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017. 239 Seiten, 22 Euro