EIN ATLAS DER GEWALT


Bilanz der Massaker gegenüber der Zivilbevölkerung in Italien 1943/45

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Eine Installation vor der Kirche in Sant`Anna di Stazzema zur Erinnerung an den mörderischen Überfall im August 1944

Mailand/Rom – Als am 8. September 1943 deutsche Truppen in Italien einmarschierten, begann eine 20 Monate andauernde Folge von Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung. Das dokumentiert zum ersten Mal systematisch ein sogenannter „Atlas der Gewalt“ (www. straginazifasciste.it), der gerade online gestellt wurde und auf Italienisch, Englisch und Deutsch konsultiert werden kann. Er erfasst alle bislang bekannten mörderische Übergriffe von Seiten der Wehrmacht, der SS wie auch von Einheiten italienischer Faschisten in ganz Italien. Erst mit der endgültigen Befreiung Italiens von deutscher Besatzung und faschistischer Herrschaft (auf dem norditalienischen Rumpfgebiet der sogenannten „Repubblica di Salò“) durch die Alliierten und die sie unterstützenden Partisanenverbände ging eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Militärgeschichte zu Ende. Symbolisch wird die Befreiung mit dem Einmarsch von Resistenza-Einheiten in das von der Wehrmacht und der SS verlassene Mailand am 25. April 1945 gleich gesetzt. Der 25. April ist heute als „Festa della Liberazione“ ein nationaler Feiertag.

Über die Ausmaße des Terrors gegen die Zivilbevölkerung gab es lange keinen umfassenden Überblick. Im Vordergrund standen einzelne Massaker etwa in der Toskana (Sant`Anna di Stazzema im August 1944) oder in der Emilia-Romagna (Marzabotto Ende September/Anfang Oktober 1944), bei denen jeweils mehrere Hundert Menschen – Alte, Frauen, Kinder – brutal ermordet und ganze Ortschaften dem Boden gleich gemacht wurden. Mit dem „Atlas der Gewalt“, den Historiker und Mitarbeiter des Instituts zur Geschichte der Befreiungsbewegung (Insmeli, Mailand) und der Vereinigung der Partisanen (Anpi, Rom) in den vergangenen Jahren erarbeitet haben, lässt sich zum ersten Mal ein Gesamtbild gewinnen. Die Leitung des Projektes hatte Paolo Pezzino von der Universität Pisa. Vorarbeiten gab es u.a. durch das Deutsche Historische Institut in Rom (Lutz Klinkhammer) oder vom Historiker Carlo Gentile (Universität Köln).

Das Ausmaß der Bedrohung

Zu den ersten Ergebnissen gehört die überraschend hohe Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung: über 23.000 getötete Menschen bei 5400 ausgewerteten Episoden in ganz Italien, darunter auch viele im Süden des Landes. Bislang war man von rund 15.000 Todesfällen ausgegangen. Ebenso war der Anteil der italienischen Faschisten (rund 20 Prozent) an den Gewalttaten bislang unterschätzt worden. Der Historiker Amedeo Osti Guerrazzi kommentierte in der Turiner Tageszeitung La Stampa: „Der Atlas erlaubt das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen, der sich nicht nur die Partisanen, sondern auch Teile der Bevölkerung, die sie unterstützten, aussetzt hatten.“

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„Casa della Memoria “ (Haus der Erinnerung) in Mailand

Die Erarbeitung eines „Atlas der Gewalt“ geht auf eine Empfehlung der deutsch-italienischen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des zweiten Weltkrieges 1943/45 auf italienischem Boden zurück. Sie war 2008 eingerichtet worden und konnte 2012 ihren Abschlussbericht vorlegen. Finanziert wurde die Arbeit am Atlas von der Bundesrepublik Deutschland, die in Folge der Historikerkommission einen sogenannten „Zukunftsfond“ von insgesamt vier Millionen Euro Haushaltsmittel bereit gestellt hat, von dem unter anderem auch eine Dauerausstellung in Berlin-Schönweide über italienische Militärinternierte 43/35 gefördert werden soll. Im September 2016 ist in Mailand in der „Casa della Memoria“ ein internationaler Historikerkongress zum „Atlas der Gewalt“ geplant.

www. straginazifasciste.it

Siehe auch den Beitrag „Wie Erinnern“ aus dem Archiv von Cluverius (April 2011)