NACH SARDINIEN, BEVOR DIE TOURISTEN KAMEN


Eine Reise mit Fotos von Marianne Sin-Pfältzer

copyright Illisso

Castelsardo, Fischer mit Reusen, 50er Jahre

Nuoro. Kinder, ein kleiner Hafen, das nachdenkliche Gesicht eines Fischers, Reisende der ersten Klasse, die ein Fährschiff verlassen, und junge Esel, die aus einer Luke der Fähre an Land geführt werden – mit dieser Bilderfolge aus den fünfziger Jahren führt Marianne Sin-Pfältzer in ihr Fotobuch über Sardinien ein. Es ist der Beginn einer Zeitreise, die bis in die Mitte der siebziger Jahre reicht – also bevor der Tourismus die Insel für sich entdeckte. Die Fotos dokumentieren den ungeheuren Umbruch des Lebens auf Sardinien am Ende einer jahrtausende langen Epoche. Die Menschen auf diesen Fotos stehen an der Schwelle zur Moderne, die Sardinien verspätet, praktisch erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Eine geradezu ironische Aufnahme symbolisiert das mit Frauen in traditioneller Alltagskleidung, die wie vor hunderten von Jahren am öffentlichen Waschplatz ihre Wäsche auf alten Granitsteinen scheuern – und daneben liegt ein Packung „Persil“.

Ein wundervoller Essay von Giulio Angioni
Frauen sind die Hauptdarsteller von Marianne Sin-Pfältzer. Viele Fotos führen in das Häusliche, das Private. Man beobachtet Frauen mit Kindern, sieht ihnen beim Backen von Brot wie beim Schälen von Mandeln zu. Gegensätze zwischen Tradition und Wandel, zwischen Altem und Neuen tun sich auf. Etwa 1968, man sieht in Dorgali, an der Ostküste Sardiniens, ein Campingwagen als Zeugnis des langsam aufkommenden Fremdenverkehrs. Davor stehen eine flott gekleidete Touristin aus dem Norden und drei junge sardische Frauen, die Amphoren auf ihren Köpfen balancieren. Dem Band ist ein wundervoller Essay des sardischen Anthropologen und Schriftstellers Giulio Angioni vorangestellt. Er ordnet die Fotos in den historischen und sozialen Kontext ein. Und macht deutlich, wie die Kluft zwischen uns heute und dem Sardinien jener Umbruchjahre tiefer ist „als die Kluft zwischen den Fünfziger- und Sechzigerjahren und den Zeiten der in diesem altertümlichen Eiland noch immer allgegenwärtigen Nuraghen.“

Mit den Fotos (getrennt in einen Teil mit Schwarz-Weiß-Abbildungen und Farbdrucken) werden viele kleine Geschichten erzählt. Vom traditionellen Handwerk bis zum Leben der Schäfer.

copyright Illisso

Oristano, Via Dritta, 1968

Vom Treiben auf den Straßen der Inselhauptstadt Cagliari, die älter ist als Rom, zur Stille staubiger Dorfgassen. Von politischen Demonstrationen zu Beerdigungen. Von einsamen Landstrichen zu fröhlichen Volksfesten und steifen Prozessionen Und immer wieder schaut man den Menschen in ihre Gesichter. In ihren dunklen Augen spiegeln sich Hoffnung, Skepsis und manchmal auch ein wenig Trauer.

Sardinien blieb ihr Schicksal
Die heute 88jährige Fotografin, die aus Hanau stammt, ist seit 1950 dutzende Male auf die Mittelmeerinsel gereist, um die Menschen, ihre wechselnden Lebensumstände und die raue, aber faszinierende Landschaft abzubilden. Die Arbeiten, die auf diesen Reisen entstanden, wurden auf Ausstellungen in ganz Europa gezeigt. 1961 heiratete Marianne Pfältzer den koreanischen Architekten Dong-Sam Sin. Die Ehe hielt nicht lange. Davon blieb nur der Doppelname. Nach einem traumatischen Erlebnis – 1976 wurde ihr die Fotoausrüstung (eine Hasselblad 500c mit gesamten Objektivpark und Zubehör) gestohlen – brach Marianne Sin-Pfältzer ihre Karriere als Fotografin ab und versuchte sich mit der Herstellung von Druckvorlagen für Stoffe (Foto-Batik). Aber Sardinien blieb ihr „Schicksal“, wie es Salvatore Novellu in der abgedruckten Lebensbeschreibung ausdrückt. Inzwischen hat sich Marianne ganz auf der Insel niedergelassen. Sie fand ihren Alterssitz in der Gebirgsstadt Nuoro, dem Herzen des alten Sardiniens, wo sie beim Verlag Ilisso ihr Foto-Archiv unterbringen konnte. In strenger Auswahl aus über 13.000 Abbildungen des Archivs hat sie dieses beeindruckende Fotobuch zusammen gestellt. Und nach einer italienischen ist jetzt bei Ilisso auch eine deutschen Ausgabe erschienen.

Ins Reisegepäck gehört dieser großformatige und mehrere Kilo schwerer Band eher nicht. Aber als Begleiter einer ideellen Reise in eine nur wenige Jahrzehnte zurückliegende Vergangenheit, die uns Sardinien mit seinen Schönheiten aber auch mit seinen Unfertigkeiten besser verstehen lassen, erzählt er mehr, als viele kluge Wort vermögen. Am Ende sieht man in einer sommerlich ausgetrockneten Macchia-Landschaft an der Costa Rei ein notdürftig zusammen gehämmertes Schild mit der etwas ungelenken Aufschrift „Supermarket Monte Nai Km 4“.

Nachtrag: Marianne Sin-Pfältzer starb im August 2015 im Alter von 89 Jahren in Nuoro an den Folgen eines Verkehrsunfalls

Marianne Sin-Pfältzer: Sardinien. Menschliche Landschaften. 400 Seiten, über 327 Abbildungen, davon 132 Tafeln in Schwarz-Weiß und 166 Tafeln in Farbe, jeweils ganz- oder doppelseitig.Illisso Edizioni, Nuoro Format: Folio, 29 cm x 32 cm. Mit Texten von Giulio Angioni und Salvatore Novellu. Aus dem Italienischen von Rainer Pauli. Ilisso Edizioni, Nuoro. 59 Euro (bei Bestellung über den Verlag versandkostenfrei: http://www.ilisso.it/z/marianne.html)

Erstveröffentlichung Süddeutsche Zeitung 26. März 2015