NOCH EINMAL IN STOCKHOLM TANZEN


Zum Tod von Inge Feltrinelli

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Inge Feltrinelli, Essen 1930 – Mailand 2018

Mailand – Inge Feltrinelli liebte Farben. Aber sie mussten lebhaft sein, gelb oder orange leuchten, denn die große alte Dame des italienischen, des europäischen Verlagswesens war die Lebhaftigkeit in Person. Lauthals begrüßte sie Gäste in ihrem mit Büchern, Fotos und Zeitungsausschnitten vollgestopften Arbeitszimmer. Begeistert erzählte sie von „ihren“ Autoren. Schwärmte von der nächsten Eröffnung einer Feltrinelli-Buchhandel und lobte die tollen Mitarbeiter, „vor allem die Frauen“, überschwänglich. Vor zwei Wochen wurde in Mailand ein weiterer Feltrinelli-Verkaufspunkt des Formats RED („Read, eat and dream“) eröffnet. Und zum ersten Mal fehlte Inge bei solch einer Veranstaltung. Kurz darauf, am 20. September, ist sie im Alter von 87 Jahren gestorben.

Zu Ihrem 80. Geburtstag war eine 75minütige Filmdokumentation auf DVD mit Begleitbuch (natürlich bei Feltrinelli) erschienen, in der sie von ihrem Leben erzählt. Am 24. November 1930 wurde Inge Schoenthal in Essen geboren. Ihr jüdischer Vater zeigte ihr in der Reichskristallnacht die brennende Synagoge der Stadt. Dann floh er über die Niederlande in die USA. Die Ehe der Eltern zerbrach in diesen wirren Zeiten, die Mutter heiratete einen Kavallerieoffizier und zog nach Göttingen. Trotz des Schutzes durch den Stiefvater musste Inge als Halbjüdin die Schule verlassen, die Mutter behielt sie während der letzten Kriegsjahre einfach zu Hause. „Ich hätte das Schicksaal von Anne Frank haben können“, sagt sie in dem Film.

Nach dem Krieg wollte sie zu ihrem leiblichen Vater in die USA ziehen, um dort zu studieren – doch der hatte sich inzwischen auch wieder verheiratet und wollte von seiner alten Familie nichts mehr wissen. Damals ein Schock für die junge Inge. Heute sagt sie: „Es war bestimmt besser so.“ Sie wäre nur eine typische Middle-class-lady geworden und hätte ihr tolles Leben verpasst.

Das Foto mit Hemingway

Inge Schoenthal ging statt dessen nach Hamburg, wurde Fotoassistentin und machte bald als Fotografin Aufsehen (berühmt sind ihre Begegnung mit Hemingway oder Picasso). Sie lernte den jungen Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli im Haus von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt kennen und lieben – und wurde 1958 Frau Feltrinelli. Den politisch extrem links engagierte Milliardär zog es Ende der 60er Jahre in den Untergrund. Inge übernahm nach seinem Tod (er kam 1972 unter bis heute nicht geklärten Umständen bei einem Sprengstoff-Attentat ums Leben) das Verlags- und Buchhandelsunternehmen, das inzwischen ihr Sohn Carlo Feltrinelli führt.

Inge und Giangiacomo Feltrinelli in den 1960er Jahren

Im Verlag kümmert sich IF, wie sie von den Mitarbeitern genannt wird, zuletzt vor allem um die Öffentlichkeitsarbeit. Sie füllt damit eine Rolle aus, die Carlo weniger gerne spielt: Eröffnungen von Buchhandlungen – 122 Verkaufstellen gibt es heute – , Kontakt mit internationalen Autoren, Auftritte auf Messen und Tagungen. Ein Vulkan von Neugier, Freundlichkeit und Unternehmergeist hatte sie Amos Oz genannt. Neugier, so Inge Feltrinelli im Gespräch vor einigen Jahren, stimuliere. Gerade im Alter müssen man sie weiter entwickeln, sonst sei man „out“. Freundlich sei eine natürliche Gabe und sie sei dankbar, dass sie sie habe. Und ohne Unternehmergeist könne kein Verleger auskommen, schließlich müsse er sich „jeden Tag neu erfinden“.

In ihrer Jugend hatte sie noch mit der Lampe unter der Bettdecke gelesen, im Alter konnte sie sich nicht vorstellen, einen E-Book-Reader in die Hand zu nehmen. Dafür sei sie nicht zu haben, sagte sie, sie möchte noch das Papier riechen und hören, wie es zwischen den Fingern knistere. Vermutlich gehöre der Elektronik die Zukunft (und Feltrinelli hat inzwischen mit Verlagen wie Rizzoli, der Mauri-Gruppe und den Messaggerie eine Vertriebsgemeinschaft für E-Books auf die Beine gestellt) – „aber ich bin für Gutenberg!“

Ein Wunsch hatte sie bis kurzem begleitet. Dass ein Feltrinelli-Autor mal wieder den Literaturnobelpreis gewinnen würde. Dann hätte sie nach Stockholm fahren und „mit dem Gewinner tanzen“ können. Jetzt wird es ruhiger im Verlag werden, nicht nur ihr Witz, ihre Lebhaftigkeit, ihre frechen, oft politischen Stellungnahmen werden fehlen. Fotografin, Unternehmerin, Intellektuelle, Freundin – Inge Feltrinelli wird uns allen fehlen.

Fotos von Inge Feltrinelli sind im Steidl Verlag erschienen: „Mit Fotos die Welt erobern“