TRAUER UM ELENA FERRANTE


Wie in Italien über die Entschlüsselung eines Pseudonyms debattiert wird

copyright D.Cannalire/NYU Florence

Die Übersetzerin Anita Raja

Mailand – Ist sie es, oder ist sie es nicht? Das Rätsel um die Identität der neapolitanische Autorin Elena Ferrante scheint gelöst. Unter dem Pseudonym Ferrante hatte die Autorin vor allem die vierteilige Romanserie „L’amica geniale“ („Meine geniale Freundin“) ab 2011 veröffentlicht, die nicht nur in Italien (1 Million verkaufte Exemplare), sondern vor allem im englischen Sprachraum (2,6 Millionen Exemplare) ein Bestseller ist. Bei einer investigativen Recherche verfolgte Italiens bedeutendstes Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore die Spur des Geldes und stieß, den Honorarzahlungen folgend, auf die Übersetzerin Anita Raja.

Die heute 63jährige, die u.a. Christa Wolf und andere deutsche Autoren übersetzt hat, arbeitet für den Verlag edizioni e/o, in dem ebenso die Bücher der Ferrante herauskommen. Der Artikel des Sole 24 ore erschien am Sonntag (2.10.) zeitgleich auch in deutschen, französischen und amerikanischen Medien. Und das Opfer wurde aufgeschreckt. Am Mittwoch hieß es auf einem Twitter-Account unter dem Namen Raja: „Ich bestätige es. Ich bin Elena Ferrante.“ Doch schnell stellte sich heraus: Der Account, der inzwischen wieder geschlossen wurde, war ein plumper Fake.

Selbstinszenierung einer Lebensgeschichte

Ist Raja also doch nicht Ferrante? Die hatte in ihrem autobiographischen Buch „La Frantumaglia“ („Ein Haufen Bruchstücke“) ausführlich von einer Jugend in Neapel erzählt. Diese Geschichte will gar nicht zu Raja passen, die mit ihrer Familie bald nach ihrer Geburt in Neapel nach Rom umgezogen war und dort aufwuchs. Allerdings gehört auch diese wohl erfundene Biographie zur Selbstinszenierung der Autorin Ferrante, die so zu ihren neapolitanischen Romanen eine passende Lebensgeschichte liefert. Leser und Kritiker haben bei aller Neugier, wer sich denn hinter diesem Pseudonym verstecke, bislang dieses Spiel goutiert: ein Rätsel, das man eigentlich gar nicht lösen will, weil es fasziniert, solange es rätselhaft bleibt.

Nüchtern betrachtet kann die Dekuvrierung des Pseudonyms in der Mailänder Wirtschaftszeitung überzeugen. Sie folgt nicht nur finanziellen, sondern – was in der Berichterstattung meist unterschlagen wird – auch literarische Spuren von Anita Raja und ihrem Ehemann, dem neapolitanischen Schriftsteller Domenico Starnone. Beide gehörten schon seit langem zum „Kreis der Verdächtigen“, wenn über die Identität von Elena Ferrante spekuliert wurde. Erbost reagierte jetzt Ferrantes Verleger Sandro Ferri: „Hört auf, Elena Ferrante nachzustellen!“ Sie sei schließlich keine Kriminelle. Als Dementi in Sachen Raja bleibt das allerdings schwach.

Der Spielverderber wird beschimpft

So nimmt man also in der italienischen Öffentlichkeit hin, was man eigentlich gar nicht so genau wissen wollte. Derweil wird Claudio Gatti, der Autor der Recherche, als Spielverderber beschimpft. Als einer, der die Privatsphäre verletze. Das sei keine literarische, sondern reine journalistische Neugier, zeigt sich die Schriftstellerin Michela Murgia beschämt. Mit solchen Methoden sollte man keine Autoren, sondern Steuerhinterzieher verfolgen, empörte sich ihr Kollege Erri De Luca.

Gatti verteidigt sich in einem Interview mit der Buchhandelszeitschrift Il Libraio. Er habe nie die literarische Qualität der Ferrante angezweifelt. Auch habe er keine Anklageschrift geschrieben, sondern ohne in Einzelheiten zu gehen, die Gründe offen gelegt, die beweisen würden, dass sich hinter Elena Ferrante die Person von Anita Raja verstecke. Ferrante habe in ihrer Autobiographie „die Unwahrheit geschrieben“, es gebe „ein öffentliches Interesse“, die Wahrheit zu erfahren. Und man dürfe nicht vergessen, dass sich die Autorin vielleicht mit dem Pseudonym schützen wollte, der Verlag aber daraus „eine Marketing-Strategie“ entwickelt habe.

Aber ach, beklagt sich der Kritiker Michele Serra in „la Repubblica“, der „Nicht-Name“ sei viel interessanter gewesen sei: „Ich trauere jetzt schon der unbekannten Elena Ferrante nach.“

Der Beitrag von Claudio Gatti in Il Sole 24 Ore: hier

Ein Interview mit Claudio Gatti in der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.: hier

Siehe auch den Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6.10.

In deutscher Übersetzung von Karin Krieger ist gerade der erste Band der Romanfolge „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante im Suhrkamp Verlag, Berlin, erschienen.42553