„VERGESST UNS NICHT!“


Vor 75 Jahren: Bei einem Massaker an der Zivilbevölkerung töteten Wehrmacht und SS in Marzabotto/Monte Sole über 700 Personen

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Erinnerungsstätte in Marzabotto

Mailand/Marzabotto – Italien im Zweiten Weltkrieg. Alliierte Truppen landen im Juli 1943 auf Sizilien. Nach dem Waffenstillstand im September 43 löst Italien sich aus dem Bündnis mit Hitler-Deutschland und wird von der Wehrmacht besetzt. Während die Alliierten in einem fast zwei Jahre andauernden Krieg langsam nach Norden vorrücken, bilden die Deutschen auf dem Rückzug immer neue Verteidigungslinien. Im Herbst 1944 nutzten sie in der sogenannten Goten-Linie Apenninausläufer zwischen Rimini und Pisa mit dem Ziel, den Durchbruch der Alliierten in die Po-Ebene zu verhindern. Um sich im Hügelland südlich von Bologna bei der Ortschaft Marzabotto festzusetzen und sich einer Brigade italienischer Partisanen zu erwehren, zerstören Einheiten der SS und der Wehrmacht vom 29. September an das Gebiet um und auf dem Monte Sole und töten auf grausame Art Angehörige der Zivilbevölkerung. Über 700 Personen, vor allem Frauen, Kinder und ältere Männer kommen ums Leben.

Am frühen Morgen des 29. September 1944 umstellen Einheiten der SS und der Wehrmacht das Gebiet um den Monte Sole oberhalb der Ortschaft Marzabotto rund 30 Kilometer südlich von Bologna. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf italienischem Boden bilden die zurückweichenden Deutschen immer neue Verteidigungslinien gegen die von Süden vorrückenden Alliierten. Marzabotto gehört zur zugenannten Goten-Linie, die den Durchbruch in die Po-Ebene verhindern soll. Von vier Seiten aus machen sich Einheiten der Deutschen auf den Weg ins Hügel- und Bergland zwischen den Flüssen Setta und Reno.

An diesem Morgen ist auch ein junges Mädchen, Angiolina Massa, zusammen mit einer Freundin unterwegs am Monte Sole, wo sie Angiolinas Vater treffen. Später erinnert sie sich in einem Dokumentarfilm: „Als wir ankamen, rief mein Vater: ‚Geht zurück, die Deutschen sind schon da!’ Also gingen wir zurück. Wären wir geblieben, wären wir so wie alle anderen gestorben.“

Mit der Absicht zu töten

Die Deutschen kommen mit der Absicht zu töten. Der durch die Täler fließende militärisch wichtige Versorgungsverkehr war in den Wochen zuvor durch Aktivitäten der vom Monte Sole aus operierenden Widerstandsbrigade Stella Rossa empfindlich gestört worden. Im Tagesbefehl für die Operation heißt es: „Ziel der Operation ist die Vernichtung der Partisanengruppen und die Säuberung des Feindgebiets zwischen dem Setta- und dem Reno-Tal.“

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Vor allem Frauen und Kinder – Installation im Inneren der Erinnerungsstätte

Die Einheiten der SS und der Wehrmacht setzen teilweise schwere Waffen wie Artillerie ein. Sie können eine kleinere Partisanengruppe noch am 29. September schnell außer Gefecht setzen. Doch dem größten Teil der Partisanen der Stella Rossa gelingt es, sich ins unwegsame Gelände zurückziehen. Unter Befehl von Sturmbannführer Walter Reder, Kommandant der Panzeraufklärungsabteilung der 16. Panzergrenadierdivision, beginnen die deutschen Einheiten eine Art Rachefeldzug gegen die Zivilbevölkerung, die sie als „Bandenhelfer“ einstufen. Der italienische Spielfilm L’uomo che verrà, („Ein Mensch kommt in die Welt“), aus dem Jahr 2009 gibt eine Ahnung vom Ausmaß des Schreckens (hier ein Ausschnitt).

Bewegender Spielfilm zum Massaker – Plakat „L’uomo che verrà“

Die deutschen Soldaten töten alle, denen sie begegnen. Frauen, Kinder, alte Männer. Sie sperren Menschen in Räume ein und werfen wahllos Handgranaten durch die Fenster. Wer fliehen will, wird erschossen. Sie brennen Häuser, Ställe, Kirchen nieder. Gastone Sgargi, Widerstandskämpfer der Stella Rossa, muss – verletzt in einer Höhle versteckt – dem bestialischen Treiben bei einem Bauernhof unterhalb seines Verstecks zusehen. Er erzählt:

„Das Schlimmste waren die Schreie der Frauen, der Kinder, die getötet wurden. Ein unbeschreibbar bestialisches Schauspiel. Auch das Vieh, halbverbrannt, schrie. Etwas Furchtbares, das wird immer in meinem Kopf bleiben.“

Fünf Tage Hölle

Einige wenige überleben unter toten Körpern liegend. Fünf Tage dauert das Massaker an über hundert verschiedenen Plätzen in Siedlungen oder vereinzelt liegenden Häusern, die zum Gemeindegebiet von Marzabotto und zwei Nachbardörfern (Monzuno, Grizzana Morandi) am Monte Sole gehören. Wobei das Ortszentrum von Marzabotto am Fuß des Monte Sole, wo heute die Gedenkstätte zu besichtigen ist, verschont bleibt. Ziel der deutschen Mordlust sind die Bewohner im ländliche Raum, wo man Verstecke des Widerstands vermutet und den man aus strategischen Gründen kontrollieren möchte. Am Ende werden mindestens 770 Menschen getötet – angeblich weil sie mit den Partisanen unter einer Decke gesteckt hätten. Darunter 216 Kinder und 316 Frauen. Allein Walter Reder muss sich nach dem Krieg bei einem Prozess in Bologna juristisch für sein Tun verantworten. Zu lebenslanger Haft verurteilt, wird er 1985 von Italien begnadigt und stirbt 1991 in Wien.

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Der Monte Sole heute – ein Erinnerungspark

Das Leben sei nicht mehr auf den Monte Sole zurückgekehrt, erzählt Andrea Marchi von der Vereinigung der Opfer (Onoranze ai Caduti Marzabotto). Die Deutschen haben diese Position der Gotenlinie monatelang bis zum April 1945 gehalten. Nach dem Krieg blieb das Gebiet verlassen. „Heute gibt es nur noch Natur“, so Marchi heute. Die wenigen Überlebenden, ihre Familien sind nicht auf dem Monte Sole geblieben. Erst Ende der 1980er Jahre wurde ein Erinnerungspark eingerichtet. „Das ist für die lokale Bevölkerung eine schwierige Erinnerung. Wegen des ungeheuren Ausmaßes des Vorgangs, aber auch wegen seiner Komplexität. Es gibt Stimmen, die sagen, die Partisanen hätten nicht genug getan, um das Massaker zu verhindern. Andere wollen überhaupt nicht erinnert werden.“

Die Folgen der Schuld

Im Jahre 2002 besuchte Bundespräsident Johannes Rau zusammen mit dem italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi die Gedächtnisstätte in Marzabotto. „Es ist schwer,“ sagte Johannes Rau in seiner Rede, „an diesem Ort Worte zu finden, die dem Ungeheuren gerecht werden, das mit Worten kaum zu fassen ist. Ich denke an die Kinder und Mütter, an die Frauen und an die ganzen Familien, die an diesem Tag Opfer des Mordens geworden sind, und mich ergreifen Trauer und Scham.“ Persönliche Schuld, so damals der Bundespräsident, „tragen nur die Täter. Mit den Folgen dieser Schuld müssen sich auch die nach ihnen kommenden Generationen auseinandersetzen.“ An die Opfer des Massakers erinnerte auch Außenminister Heiko Maas bei einem Besuch im September 2018. „Es sind Taten, die von Deutschen begangen wurden, die uns in ihrer Grausamkeit den Atem stocken lassen“, so Maas.

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Aus dem Besucherbuch in Marzabotto

Andrea Marchi, ehemaliger Lehrer und von 1999 bis 2009 Bürgermeister von Monzuno wünscht sich, dass viele Deutsche nach Marzabotto zu Besuch kämen. „In aller Freiheit und ohne sich schuldig zu fühlen“, denn die Schuld der Väter, so der 63jährige, dürfe sich nicht auf die Kinder übertragen. „Aber ich bitte die deutsche Öffentlichkeit: vergesst uns nicht!“

In Sommercamps einer Friedensschule auf dem Monte Sole, die unter anderem vom Bundesland Hessen unterstützt wird, treffen sich seit rund zwanzig Jahren Jugendliche aus Deutschland und Italien, aber auch aus Palästina und Israel oder aus Irland – um die Erinnerung wach zu halten und Strategien für eine friedliche Lösung von Konflikten zu entwickeln.

 

Den Text in einer kürzeren Form hat der Deutschlandfunk als Beitrag in der Rubrik „Kalenderblatt“ am 29. September gesendet.

Veranstaltungen zum 75. Jahrestag des Massakers am Monte Sole/Marzabotto siehe hier

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Warten auf Besucher – Bahnhof Marzabotto