VOM LÖFFEL BIS ZUR STADT


Mailand, das Design und sein Netzwerk – eine Spurensuche

copyright Triennale Design Museum

Die sieben Obsessionen des italienischen Designs – Ausstellung im Triennale Design Museum 2012

Mailand (23.2.2012). Design in Mailand also. Blitzlichtartig tauchen Namen auf. Alessi und Kartell, Cassina und Armani. Designer gründen Firmengruppen, Industriebetriebe stützen sich auf die Kreativität ihrer Architekten. Mode- und Produktdesign sind in einem regen Austausch begriffen. Mailand (1,3 Millionen Einwohner in der Stadt, 5 Millionen im Großraum) ist eine Stadt voller Bewegung und Konkurrenz. Jede gute Idee stößt hier auf bessere Alternativen. Rund 12.000 Architekten haben sich in der Stadt niedergelassen. Mehr als 7000 Menschen teilen sich ein Quadratkilometer Fläche, enger geht es in Italien nur noch in Neapel zu. Und weitere 900.000 Menschen pendeln jeden Tag in die lombardische Wirtschafts- und Finanzmetropole ein, die zugleich Europas größter Messeplatz ist. Dazu gehört auch der Salone del Mobile, die Möbel- und Einrichtungsmesse, die die Stadt jedes Jahr im April in einen wahren Design-Taumel versetzt. Einige Veranstaltungen des Fuorisalone in den Showrooms, Werkstätten und open studios der Architekten und Hersteller außerhalb des Messegeländes haben inzwischen chaotische Formen einer Kirmes angenommen.

Ein Shoppingparadies für gefüllte Brieftaschen

Den Rest des Jahres bleibt Mailand ein Shoppingparadies eher für Träger gefüllte Brieftaschen. Die vielen Boutiquen und Showrooms präsentieren die Objekte der Begierde, als sei die ganze Stadt ein Theater des guten Geschmacks. Im Nobel-Kaufhaus Rinascente kann man einen Überblick bekommen, was gerade angesagt ist. Und Mehrzahl der Waren kommt aus Mailand selbst und seiner Umgebung. Nach einer Untersuchung des Landesverbandes Associazione per il Disegno Industriale (ADI) sind von den 612 wichtigsten Designunternehmen Italiens 38,2 Prozent in der Lombardei angesiedelt und 24,1 Prozent allein in der Provinz Mailand.

Hoch über den Köpfen der Passanten, die aus der Stazione Centrale hinaus auf die Piazza Duca d’Aosta treten, leuchtet eine Installation im zentralen Eingangsbereich der Vorhalle des Mailänder Hauptbahnhofs. Stahl und Neon zeichnen die Umrisse einer auf die Spitze gestellten Pyramide nach, die von außen, von der Piazza aus gesehen, wie ein flächiges Dreieck wirkt. Es ist ein Spiel mit Linien und Formen, das Dreieck ist schlichte Geometrie und göttliches Symbol zugleich.

Mario Botta und die Schutzheilige 

Der Tessiner Architekt Mario Botta hat diese Lichtpyramide im November 2010 aufgehängt, die das göttliche Dreieck ohne Angst vor esoterischen Interpretationen auf den Kopf stellt, um an eine Heilige zu erinnern. An Santa Francesca Cabrini, die aus einem kleinen Ort südlich von Mailand stammte und 1917 im Alter von 67 Jahren in Chicago starb. Auf Reisen vor allem nach Nord- und Südamerika hat sie sich mit den Mitgliedern einer von ihr gegründete religiösen Gemeinschaft für Auswanderer eingesetzt. Heute gilt Francesca Cabrini als Schutzheilige der Emigranten und ihr ist auch die Stazione Centrale geweiht.

Italien ist ein katholisch geprägtes Land, und Mailand gehört zu diesem Italien, was der langsam durch die Zeiten gewachsene Dom, die mittelalterliche Basilika Sant’Ambrogio oder die Klosteranlage von Chiaravalle eindrucksvoll belegen. Aber nirgend woanders in Italien würde man es wagen, sich mit solchen radikal elementaren Formen einer Heiligen zu nähern, wie das Mario Botta mit dieser Arbeit getan hat.

Design seit Leonardos Zeiten

So zeigt sich Mailand bereits in seinem Bahnhof den Ankommenden als ein Ort, wo der „disegno“ gepflegt wird, die Zeichnung, oder wie man in der Renaissance sagte, das „Umreißen einer Idee“, was damals als höchste Kunst gepriesen wurde. Und zugleich wirkt Bottas Pyramide von weitem wie ein Ausrufezeichen: Hier ist Design! Der Begriff hat sich nicht nur sprachlich, sondern auch historisch aus dem des „disegno“ entwickelt. Er steht in der Tradition des größten Entwerfers und Zeichners von Gebrauchsgegenständen, Kleidern, Maschinen oder auch Waffen, den Mailand, den Italien, den die Welt je kennen gelernt hat: Leonardo da Vinci.

Im Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia in der Via San Vittore kann man Zeichnungen und Nachbauten seiner Geräte sehen – und das Modell einer Stadt, mit dem Leonardo für uns ganz zeitgemäß Verkehrs- und Lebensbereiche auf mehreren Ebenen organisieren wollte. Die Geschichte des Designs, so lernen wir, beginnt nicht erst mit der industriellen Revolution. Vom Löffel bis zur Stadt, „dal cuccaio alla città“, lautete das Motto, mit dem man heute noch das Arbeitsfeld eines modernen Designers beschreibt.

Warum werden die schönen, die neuen, die gewagten Formen, eher hier als anderswo erdacht, erprobt und produziert? Das hat viel mit handwerklichem Wissen zu tun, dass sich seit Leonardos Zeiten wie ein Humus abgelagert hat. In der Silberwarenwerkstatt De Vecchi kann man eine Spur aufnehmen.

Der Silberschmied und ein Gartenschlauch

Der Graveur Piero De Vecchi gründete die Werkstatt in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unweit des Naviglio Grande. Das Schleusensystem dieses Kanals, der Mailand mit dem Ticino-Fluss verbindet, ist eine Ingenieurleistung des Mittelalters. In dieser Umgebung stellte De Vecchi mit einem halben Dutzend Handwerkern Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände aus Silber her, wie sie in allen Haushalten seit dem Aufstieg des Bürgertums zum guten Ton gehörten. Die Formen der Tassen, Teller oder Kannen waren vom traditionellen Geschmack vorgegeben, auch wenn Piero De Vecchi sich ein bisschen als Bildhauer verstand und dem Futurismus nahe fühlte. Künstlerische Einzelstücke oder kleine Serien wurden auf Ausstellungen gezeigt. Bei der VIII. Triennale 1947 präsentierte er einen zweiarmigen Kerzenhalter „T8“, der sich aus einer mehrfach gebogenen Röhrenform entwickelte.

Inzwischen hat Matteo De Vecchi in dritter Generation das Unternehmen übernommen. Er musste zunächst einen gewaltigen Umbruch meistern. Silberwaren sind aus der Mode gekommen, sie gehören längst nicht mehr zur Aussteuer und auch nicht mehr zum guten Ton. Zugleich ist der Silberpreis in verbotene Höhen gestiegen und dadurch der Markt für Gebrauchsgegenstände endgültig zusammengebrochen.

Silber nur noch als Zitat

Matteo reagierte, indem er die klassische Linie aus dem Programm nahm und ganz auf Designerstücke setzte. Zugleich brachte er neue, ungewohnte Materialien ins Spiel. Den berühmten T8-Kerzenhalter zum Beispiel formt er jetzt einem festen, bunten Gartenschlauch, aus Silber stammt allein der reine Kerzenaufsatz. Designer entwerfen für ihn gerade ein neues Ess-Service aus Porzellan und Holz, bei dem Silber nur noch als Zitat eine Rolle spielt – bis hin zu einer Tischdecke, in die einige Silberfäden gezogen sind.

Es ist Mittagspause und Matteo De Vecchi zeigt die Werkstatt des Unternehmens, die wie ein Tresor mit einer doppelten Eisentür gesichert ist. Vieles wird hier selbst produziert, einige wenige Produkte werden ausgelagert. Gleich Anfang steht eine alte Stanzmaschine, die noch aus der Zeit des Großvaters stammt, „aber heute noch gute Dienste tut“, wie der Firmenchef sagt, der liebevoll über das alte Eisen streicht. Neben abgenutzten schweren Holztischen, stehen moderne Walzvorrichtungen, über ihnen schweben die mächtigen Rohre der Entlüftungsanlage. In einer Ecke lagern die Rohformen für den Kerzenhalter, die dann per Hand weiter verarbeitet werden. Man dürfe nicht, sagt Matteo De Vecchi, Gefangener der eigenen Geschichte bleiben, dann würde man untergehen. Was andauert, sei die Logik des Handwerks und das Produzieren für einen kleinen Markt. Mailands Stärke, sagt er, liege in einem „poetischen Design“ und dem Einsatz hochwertigen Materialien.

Flötentöne bei Alessi

Die nächste Spur führt an den Lago di Orta. Eine knappe Autostunde von Mailand entfernt findet man in Crusinallo, einem Ortsteil von Omegna die Alessi-Fabrik (auch mit preisgünstigem Direktverkauf). Alberto Alessi, geboren 1946, führt heute ein Familienunternehmen mit rund 500 Angestellten, das sein Großvater Giovanni, ein Metalldreher aus einer alten Handwerkerfamilie, 1921 gegründet hatte. Lange verkaufte man nur traditionelle Haushaltsgegenstände aus Kupfer, Messing und Holz. Albertos Vater Carlo öffnete das Unternehmen nach dem Krieg vorsichtig für neue Formen. Ein von ihm selbst entworfener Cocktail-Shaker gehört heute noch zum Alessi-Katalog.

Alberto begann dann von 1970 an, zeitgenössischen Architekten und Künstlern zu kontaktieren. Er versuchte es sogar mit Salvator Dalì, was zu einem Fiasko führte – die Zusammenarbeit kam nie über den Entwurf einer kleinen Skulptur hinaus, der sich als nicht umsetzbar erwies. Doch Albertos Lebensphilosophie war damit vorgegeben: „Nur wer an die Grenzen geht, kann sie auch ausweiten, und jeder Flop zeigt, dass man nicht zu früh aufgegeben hat.“ Etwa 250 Designer von Aldo Rossi bis Ron Arad, von Achille Castiglione bis Jasper Morrison haben seitdem den Ruf des Unternehmens als „officina“, als „Kreativ-Schmiede“ gefestigt. Aber besonders Alessandro Mendini hat sich dem Unternehmen als Chefberater verschrieben. Er hat ihm unter anderem mit dem Korkenzieher „Anna G.“, der bislang hundertausendfach verkauft wurde, einen Riesenerfolg beschert.

Albertos Schatzkammer

Mendini hat auch das (nur für Fachbesucher zugängliche) Firmenmuseum entworfen. Von einem Mittelflur gehen schwere, auf Schienen gelagerte Glasvitrinen ab, die man aber mit leichter Hand verschieben kann, so dass sich zwischen ihnen immer ein Gang öffnen lässt. Hier hat Alberto seine Schätze aufbewahrt: die Prototypen fast aller wichtigen Alessi-Objekte, insgesamt rund 10.000 Stück, glänzen um die Wette, einige von ihnen sind aber auch mit der Zeit stumpf geworden. Arbeiten noch von seinem Vater, die verunglückte Dalì-Skulptur oder Vorentwürfe für Aldo Rossis Espressokanne „La Conica“.

Gleich daneben steht der „Flötenkessel 9091“ von Richard Sapper aus den achtziger Jahren. Der Münchner Designer soll dafür über ein halbes Jahr nach einem Flötensystem gesucht haben, dass den Sirenenton der Flussschiffer auf dem Rhein möglichst getreu wieder gibt. Der Firmenchef nimmt den Kessel in die Hand und versucht in den Flötenaufsatz zu blasen. Er versucht es einmal, zweimal – „na, kochendes Wasser hat eben mehr Druck“, sagt er. Doch beim dritten Mal klappt es einigermaßen, und wie von fern klingt der Rhein am Lago di Orta.

Schon lange dachte Alberto darüber nach, auch Möbel in die Produktreihe mit aufzunehmen. Eines der ersten Objekte, der von David Chipperfield entworfene Klappstuhl „Piana“, der in Zusammenarbeit mit dem Möbelunternehmen Lamm (Parma) entstand und auf dem Salone del Mobile 2011 vorgestellt wurde, ist bereits ein Museumsstück geworden. Das Museum of Modern Art in New York hat ihn gerade in seine feste Sammlung aufgenommen worden. So war Alberto Alessi sicher auch der richtige Mann, als die Mailänder Triennale einen Kurator für die Ausstellung „Le Fabbriche die Sogni“(„Traumfabriken“) 2011/2012 suchte.

Ein Museum in Bewegung

Also auf zur Triennale. Parallel zur Biennale in Venedig, die alle zwei Jahre das Beste der italienischen Kunst ausstellte, sollte die Triennale zunächst in Monza und ab 1933 in Mailand alle drei Jahre das Verhältnis von Industrie und den angewandten Künsten in den Mittelpunkt einer Ausstellung stellen und über Produkte, Ideen und Innovationen Auskunft geben. Einer ihrer Vordenker war Gio Ponti (1891-1979), der buchstäblich „vom Löffel bis zur Stadt“ alles entworfen hat und bereits 1928 die Zeitschrift „domus“ gründete und später den „Compasso d’Oro“, den italienischen Design-Oscar, ins Leben rief.

Giovanni Muzio baute für die Triennale am Rande des Parco Sempione den Palazzo dell’Arte als habe er sie einem Bild der frühen Avantgarde entnommen. Durch hochschwingende De-Chirico-Bögen tritt man in den etwas protzigen und zugleich merkwürdig eleganten Bau. Eine einschüchternd monumentale Treppe führt in den ersten Stock mit seinem viel zu schweren Marmorschmuck aus der faschistischen Ära, wo man plötzlich auf eine wie von Zauberhand leicht gespannte, vor wenigen Jahren erst errichtete Holzbrück stößt, die alle Monumentalität hinter sich lässt und direkt in das Design Museum führt.

Das ist zu einem zentralen Platz der Mailänder Szene geworden. Silvana Annicchiarico, 1965 in Brüssel geboren und ehemalige Assistentin von Gae Aulenti, hat es 2007 als ein „Museum in Bewegung“ aufgebaut. Sie wollte in Mailand keine feste Sammlung von „Meisterwerken des Design“ zeigen, sondern in jährlich wechselnden Themenausstellungen den Bestand der Triennale mit Sammlungen von außen in Beziehung setzen. Spuren aufnehmen und neue legen.

Obsessionen des italienischen Designs

Gleich in ihrer ersten Ausstellung 2007/2008 ging Silvana Annicchiarico zusammen mit Andrea Branzi den „sieben Obsessionen des italienischen Designs“ auf den Grund. Dazu gehört unter anderem die theaterhafte Inszenierung der Objekte im Haushalt. So wie das bunt-sperrige Bücherregal „Carlton“ von Ettore Sottsass. Typisch Italienisch sind auch die leichten, farbigen, „demokratischen“ Objekte für den Massenbetrieb wie der Klappstuhl „Plia“ von Giancarlo Piretti. Oder das Brionvega Klapp-Radio von Marco Zanuso und Richard Sapper. Typisch sit sogar das dreieckige Sofa „Moon System“ von Zaha Hadid für B&B Italia. Denn typisch italienisch ist die Vielfalt, der Mut, die Ideenfülle, die nicht enden will.

Nach diesem fulminanten Auftakt folgten von 2009 an weiteren Themen-Ausstellungen, in den sich Kuratoren wie Alessandro Mendini oder eben Alberto Alessi etwa mit der Dialektik Serienproduktion/Einzelstück oder der Rolle der Unternehmen beim schöpferischen Prozess auseinander setzten. 2012 überraschte eine Ausstellung über Grafik-Design.

Die Rolle des Netzwerkes

Wenn man die Direktorin nach dem Erfolgsgeheimnis des Designs in Mailand fragt, so zählt sie das Netzwerk auf, das hier entstanden ist. Zu dem gehört die vielfältige Unternehmensstruktur um Mailand herum, wie etwa der Cluster der Möbelindustrie in der Brianza zwischen Como und Monza. Das sind im Grunde Handwerker, die sich zu kleinen Industrieunternehmen gemausert haben, mutige Unternehmer, die ganz auf Kreativität setzen. Zum Netzwerk gehört natürlich der Salone del Mobile.

Eine weitere, wichtige Rolle spielt die Kommunikation: In der Stadt sind die wichtigsten Verlage und Zeitschriften versammelt. Außerdem die Schulen und Universitäten, unter anderem das Polytechnikum, die Naba-Kunstakdemie, die Domus Academy. Und schließlich die Triennale selbst wirkt „als Bühne und Sprachrohr“. Das ist das Mailänder-Netzwerk, sagt Silvana Annicchiarico, das ist die Atmosphäre in der Designer kreativ sein können. „Haben Sie die schon gefragt?“

Das Mailänder Modell

Gute Idee. Matteo Thun, der in seinem Architektenleben von der Espresso-Tasse (Illy) bis zur Inneneinrichtung eines Hotels (Side in Hamburg) schon Vieles designt hat, gibt auch gleich eine Antwort. Er spricht von einem „modello milanese“, vom Mailänder Modell. Der Südtiroler Adelige kam 1952 in Bozen unter dem Namen Matthäus Antonius Maria Graf von Thun und Hohenstein auf die Welt. Nach dem Studium in Salzburg (u.a. bei Oskar Kokoschka) und in Florenz schloss er sich 1980 in Mailand Ettore Sottsass an und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe Memphis. Später war er sich auch für Massenprodukte (Swatch-Uhren) nicht zu schade. Heute setzt er auf nachhaltige Materialen wie Holz und geht mit Kunststoffen eher zurückhaltend um.

Im Gespräch streicht er die Verantwortung des Designers gegenüber der Umwelt und der Gesellschaft heraus. „Öko statt Ego“ ist ein von ihm gern gebrauchtes und vielzitiertes Motto. Gerade brüten Matteo Thun und die rund 50 Mitarbeiter seines Mailänder Büros in bester Lage im Zentrum der Stadt unter anderem über Entwürfe für ein neues Hotel auf einer Insel in der Lagune von Venedig und planen eine Feriensiedlung in Portugal. Ein Tischsystem („Briccole“) für den Hersteller Riva aus dem Holz alter venezianischer Dalben ist soeben marktreif geworden, wobei jeder Tisch ein Unikat ist.

Und während er das erzählt, zeichnet der ehemalige Drachenflieger auf einen Notizblock mit weichem Bleistift sich überschneidende Kreise für die verschiedenen berufsspezifischen Rollen, die sich dabei zusammenfinden: Architekt, Innenarchitekt, Produktdesigner, Lichtdesigner und so weiter. Das Zusammenspiel dieser Rollen, die Dialogfähigkeit der Beteiligten, das ist das „modello milanese“, welches Mailand und sein Design – Thun spricht lieber von „Architektur in kleinem Maßstab“ – auszeichnet.

Ungehorsame Objekte

Während Matteo Thun ein Star der Szene ist, gehört der 1966 geborene Gulio Iacchetti zur nachfolgenden Generation, in der man Geheimtipps vermutet möchte. Allerdings geht es so geheim bei Iacchetti, der sein kleines Büro im etwas angeschmutzten proletarischen Südmailand am Stadtring Viale Tibaldi in einem Hinterhof eingerichtet hat, auch nicht mehr zu. Bereits 2001 gewann er den „Compasso d’Oro“ mit einem biologisch abbaubaren Essbesteck. In der Triennale konnte er 2009 eine kleine Ausstellung unter dem Titel „Ungehorsame Objekte“ zeigen. Das sind ironisch-kritische Entwürfe etwa für eine Orangepresse in Form des römischen Petersplatzes, Wassereiswürfel als Barren mit der Aufschrift „Gold“ oder der Tisch „Rofast“. Dabei macht er den IKEA-Hocker „Frosta“ – eine ziemlich freche Imitation eines Entwurfs von Alvar Aalto – als Sitzmöbel unbenutzbar, verwandelt es aber in einen Beistelltisch.

Über IKEA, das „Design klaut wie verrückt“ (so ein Sprecher der Mailänder Möbelmesse empört), kann man in der Stadt sowieso viel Schlechtes hören. Nicht jedoch bei Iacchetti: IKEA habe vorgemacht, sagt er anerkennend, wie man „Design für alle“ anbieten könne. Design entstehe doch im Bauhaus und in anderen Einrichtungen wie später in an der Hochschule für Gestaltung Ulm mit einem demokratischen Anliegen. Und was ist es heute? Ein Luxusgut für über 45jährige. Das sei „eine Katastrophe“, sagt Iacchetti. Zusammen mit anderen hat er deshalb für der italienische Supermarktkette Coop eine Reihe von Gebrauchsgegenständen von der Wäscheklammer bis zur Klobürste entworfen.

Design kann man auch riechen

Die nächste Station: Giulio Iacchetti unterrichtet seit ein paar Jahren auch an der Naba-Kunstakademie, die wie Domus Academy (für das postgraduale Masterstudium) inzwischen vom amerikanischen Bildungskonzern Laureate Education (weltweit 650.000 Studenten) übernommen worden ist. Die Institute sind in einem neuen Design-Campus am Rande des Navigli-Viertel untergebracht. Die Design-Abteilung der Naba wird von Italo Rota geleitet. Wie Matteo Thun ist er davon überzeugt, dass die Zukunft des Designs in der Nutzung nachhaltiger Materialien liegt – und in einer neuen Form des Luxus. Es geht nicht mehr darum, Reichtum zu repräsentieren, sondern verantwortungsvoll zu nutzen. Rota, der abschreckend bunte oder grobgemusterte Hosen trägt, formuliert das philosophisch: „Die Zukunft liegt im Denken.“ Womit man wieder bei Leonardo und dem Prinzip des „disegno“ angekommen ist.

Dante Donegani nickt, das sei der richtige Weg. Der Direktor des Studienprogramms von Domus kleidet sich ganz in schwarz, wie man sich einen Angehörigen des Standes vorstellt. Er will die Studenten von Anfang an in konkrete Projekte einbinden, „wie in einer Werkstatt in der Renaissance“. Gegenwärtig biete kein anderer Ort als Mailand so viele Möglichkeiten für junge Designer, sich auszuprobieren. Viele würden hier sesshaft werden, und die, die wieder zurück in ihre Heimat gehen, tragen so die Idee vom italienischen Design in die Welt. Sogar ein Philippe Starck, der bei Domus unterrichtet, nenne sich einen Mailänder Designer.

Ein Geheimnis, das keines ist

Also: Das Mailänder Geheimnis ist eigentlich keines. Tradition und Innovation, Sinn für schöne Formen und Offenheit für neue Stile, kreativer Wagemut und verantwortungsvoller Umgang mit den Materialen und schließlich Diskussion und Ausbildung – das alles zusammen führt nach Mailand und zu den Objekten, die den Alltag als etwas Besonders erleben lassen. Jeden Morgen, wenn der schwarzbraune Kaffee sprudelnd die Mokkakanne von Bialetti füllt und ein Duft von Wohlbefinden durch die Wohnung zieht. Design kann man auch riechen.

Wer so gestärkt durch die Stadt läuft, sieht sie plötzlich mit anderen Augen. Der Schick der Geschäfte in der Via Manzoni. Die klassische Moderne der Stadtvillen aus den dreißiger Jahren in der Via Mozart. Die Eleganz der neuen Hochhäuser an der Porta Garibaldi. Der futuristische Brunnen im Parco Sempione und die dynamischen Formen, mit denen die Landschaftsarchitekten Charles Jencks und Andreas Kipar einen Hügel auf das ehemalige Werksgelände von Alfa Romeo gesetzt haben. Nicht einmal die Natur ist in Mailand vor Design sicher.

 

Siehe auch das Interview mit Andrea Branzi auf Merian.de