WIDER DIE URBANE DEMENZ


copyright Gianni Berengo Gardin/ mostra FAI-Forma

Kreuzfahrtschiffe belagern die Stadt – Eine Ausstellung mit Fotos von Gianni Berengo Gardin im Olivetti Showroom am Markusplatz (22.10.15 – 6.1.16)

Carl Wilhelm Macke über:
„Wenn Venedig stirbt“. Eine Streitschrift von Salvatore Settis

„Venedig!“  Mit diesem Ausruf grenzenloser Entzückung beginnt Mark Twain seinen Bericht über einen Besuch in der Lagunenstadt. Und Rose Ausländer lässt ein viel zitiertes Gedicht mit dem tröstlichen Bekenntnis enden: „Mein Venedig versinkt nicht“.   Unendlich viele Reiseberichte, Gedichte, Tagebucheintragungen, Erzählungen, auch Lieder und Filme wurden Venedig, der Serenissima, der heitersten aller Städte gewidmet. Ein Traum, ein Mythos, ein Sehnsuchtsort für Träumer, für Verliebte, für Melancholiker, für Kunsthistoriker, Künstler und solche, die es irgendwann einmal werden möchten.

Eine Wirklichkeit alles andere als romantisch

Aber schon bald, kurz nachdem man an einem Steg am Riva degli Schiavoni anlegt oder am Bahnhof in eines der dort verkehrenden Vaporetti einsteigt, schwindet schnell die heitere und neugierige Vorfreude auf diese einzigartige Stadt.  Die Wirklichkeit des heutigen Venedig ist alles andere als romantisch und zum Verweilen einladend. Eine nicht enden wollende Zahl an Touristen ergießt sich wie eine dunkle Lavamasse durch das Gassengewirr der Stadt, wälzt sich in die Fährboote, die unentwegt durch den Canal Grande und die vielen anderen Kanäle tuckern.

Es seien bis zu 30 Millionen Touristen, die jährlich diese Märchenstadt am Meer mit den vielen verwinkelten Gassen, Plätzen und Kanälen besuchen, liest man in einer aktuellen statistischen Erhebung aus dem Jahre 2015. Es ist nicht nur die jedes Jahr schier unaufhaltsam steigende Zahl an Touristen, die Venedig so strangulieren. Es sind auch und vielleicht ganz besonders die politischen und ökonomischen Eliten  der Stadt, die mit immer neuen Plänen und Projekten Venedig noch attraktiver für noch mehr Touristen und noch mehr Investoren machen wollen, um noch mehr Geld am Untergang dieser Stadt zu verdienen.

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Abendstimmung an der Fondamenta degli Ormesini (Cannaregio)

Der vergangene Flair der Lagunenstadt

Untergehen und sterben wird Venedig zwar so schnell nicht, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Aber man sollte sich mit einem Besuch Venedigs beeilen, um noch eine Ahnung davon zu bekommen, was das besondere Flair dieser Stadt einmal gewesen ist, was sie einzigartig in der Welt gemacht hat.  Denn so wie es Thomas Mann, Rose Ausländer, Ernest Hemingway oder auch Joseph Brodsky noch kannten, gibt es Venedig schon lange nicht mehr.

Keiner hat diesen Prozess  des langsamen Sterbens von Venedig in den letzten Jahren genauer, leidenschaftlicher  und mit größerer teilnehmender Trauer begleitet als der italienische Kunsthistoriker Salvatore Settis.  Immer und immer wieder hat der langjähriger Direktor der angesehenen „Scuola Normale Superiore“ in Pisa mit seinen Beiträgen in verschiedenen italienischen Medien auf die Gefahren einer aggressiven Privatisierung der so überreichen Kunstschätze Italiens hingewiesen. Hat auf die überragende Bedeutung einer zivilen Urbanität für das Selbstverständnis der Menschen beharrt. Hat sich angelegt wie nur wenige unter den italienischen Intellektuellen mit der kulturellen Inkompetenz innerhalb der heutigen Politikergeneration. Und die Lagunenstadt ist für ihn in seiner Streitschrift „Wenn Venedig stirbt“ immer nur der Ausgangspunkt seiner leidenschaftlichen, oft zornigen, stets auch von großer Kompetenz geprägten Verteidigung  städtischer Identität gegen deren scheinbar unaufhaltsamen Zurichtung auf kommerzielle Interessen und das Geldbudget einer globalen ‚Happy Few’.

Eine Stadt darf ihr Gedächtnis nicht verlieren

Settis plädiert nicht etwa für eine ‚Musealisierung der Stadt’ – was für Venedig wie für andere italienische Städte eine ganz besondere Gefahr ist – sondern für eine Stadt, die lebt und sich ändert, dabei aber immer auch ihr Gedächtnis behält. Wenn „ihre Bewohner die Erinnerung an sich selbst verlieren, werden sie unbemerkt sich selber fremd und selber feind“. Damit schlägt Settis schon in den ersten Zeilen seines Buches einen Grundton an, der seine gesamte Argumentation durchzieht. Und wenn sich in einer Stadt diese ‚urbane Demenz’ erst einmal ausbreitet – nicht ohne Förderung durch eine gegenwartssüchtigen politische Elite -, dann ist man den Beutezügen des Kommerz hilf- und wehrlos ausgeliefert.

„Sollte Venedig jemals sterben, wird dies nicht der Grausamkeit eines Feindes geschuldet sein oder dem eindringen eines Eroberers. Es wird vor allem durch ein Vergessen der eigenen Identität geschehen.“ Dieses alte, an der gewachsenen urbanen Identität festhaltende Bild einer Stadt – beispielhaft durch Venedig repräsentiert –  konfrontiert Settis mit dem ‚Modell Chongqing’, das paradigmatisch für ähnlich gigantische Megastädte nicht nur in China steht.  Italo Calvino, auf dessen kluge Gedanken über die ‚unsichtbaren Städte’ sich Settis immer wieder beruft, nennt diese Städte „Megalopolen, grenzenlos ausufernde, uniformierte Städte“.

Im Griff lokaler und globaler Interessengruppen

Der inmitten einer Lagune gelegenen und von jedem Hinterland abgeschnittenen Stadt Venedig droht keine Ausuferung in monotone Vorstädte. An einer Uniformierung Venedigs jedoch arbeiten seit Jahren immer mehr lokale, nationale, vor allem aber globale Interessengruppen. Dem ästhetischen und urbanen Horror sind dabei keine Grenzen gesetzt. „Das in der Nachbarschaft der ‚Giudecca’ geplante ‚Veniceland’ ist ein besonders grausames Projekt, weil es die Kopie unmittelbar neben dem Original entstehen lässt und damit der Stadt die Fähigkeit und Bestimmung abspricht, die eigene Geschichte selbst zu erzählen.“ Dieses ‚Veniceland’ ist nur eines von vielen Beispielen, die Settis aufzählt und deren Monstrosität einem schon bei der Lektüre den Atem nimmt. Täglich queren in Sichtweite des Dogenpalasts und der Piazza San Marco gigantische Kreuzschiffe die Lagune, höher als die vielen Kirchtürme der Stadt und die vielen kleinen Barken arrogant an die Seite drängend.

Man könnte dieses mit einer fulminanten Leidenschaft geschriebene Buch zutiefst deprimiert beiseite legen.  Zu erschlagend sind die Argumente und Beispiele, die Settis hier anführt, um den unaufhaltsamen Niedergang Venedigs und damit auch des Leitbildes einer humanen, über Jahrhunderte gewachsenen Stadtkultur zu illustrieren.  Einen Tagebucheintrag Goethes paraphrasierend, könnte man auch sagen: mit diesem Buch hat man seinen Begriff von Venedig erweitert.

Hoffnung auf Einsicht

Das Bild, das Settis von Venedig zeichnet, ist in dunklen Farben gemalt, fern jeder Postkartenidylle oder Canzonenromantik. Aber ganz am Ende seiner zornigen Streitschrift deutet der Autor dann doch noch eine vage Hoffnung auf Einsicht an. „Venezianern, aber auch Bürgern auf der ganzen Welt, denen Venedig am Herzen liegt, kommt eine wesentliche Aufgabe und große Verantwortung zu: aufzuzeigen und beweisen, dass Diversität und Schönheit kein schweres Erbe der Vergangenheit sind, sondern ein außerordentliches Geschenk, um die Gegenwart zu erleben und eine außerordentliche Gabe, die dabei hilft, die Zukunft zu gestalten und für sie einzustehen.“ Rose Ausländers Venedig versinkt nicht – aber vielleicht hat es Bestand nur in einer Gedichtzeile.Wagenbach Verlag

Salvatore Settis: Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Wagenbach Verlag, Berlin, 2015, 152 Seiten, 14,90 Euro

Der Text ist offline erschienen  in der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte“ 1/2 2016

Zum Thema siehe auch „Venedig ohne Venezianer“ auf Cluverius