ZU VIEL WIND UM PASOLINI?


Italien feiert den vor 40 Jahren ermordeten Autor
wie einen Heiligen

Pier Paolo Pasolini 1922 - 1975

Pier Paolo Pasolini 1922 – 1975

Rom. Vor vierzig Jahren, in der Nacht vom 1. auf den 2. November, starb Pier Paolo Pasolini. Er wurde unweit der Küste am Rand von Ostia, einer Peripherie der römischen Peripherie, ermordet. Die Täter schlugen den 53jährigen Schriftsteller, Filmemacher und Intellektuellen brutal zusammen. Anschließend wurde er am Boden liegend mehrfach von einem Auto überrollt.

Vierzig Jahre danach erinnert sich Italien dieses einstmals umstrittenen Autors mit einem Medienaufwand, als sei er gestern gestorben. Die Zeitungen überschlagen sich mit seitenlangen Erinnerungsstücken und Berichten. Der Mailänder Corriere della Sera, für den Pasolini die letzten drei Jahre vor seinem Tod Kolumnen schrieb, vertreibt jetzt im Wochenrhythmus bis zum kommenden März 22 Einzelausgaben zum Preis von umgerechnet 8,90 Euro pro Band – praktisch das gesamte literarische Werk von den „Ragazzi di Vita“ an einschließlich der Drehbücher und Streitschriften. Im Internet haben sowohl der Corriere als die römische la Repubblica Plattformen mit Artikeln, Fotos und Videos über PPP eingerichtet.

Sie führen eine überbordendes Künstlerleben vor Augen. Pasolini kam 1922 in Bologna auf die Welt, wuchs aber größtenteils im Friaul auf. Hier fand er nach dem Studium eine Anstellung als Lehrer. Auf Grund von Anklagen wegen homosexueller Neigungen verlor er jedoch seine Arbeit. Gleichzeitig wurde er von der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Zusammen mit seiner Mutter „floh“ Pasolini 1950 nach Rom, wo er zunächst am Stadtrand wohnend den Umbruch Italiens von einer ländlich geprägten Gemeinschaft zur Konsumgesellschaft hautnah erlebte – und die Zerstörung der Kultur des Einzelnen zu seinem Thema machte.

Selbstporträt von 1947

Selbstporträt von 1947

Das Interesse an einem „modernen Häretiker“
Der wirtschaftliche Aufschwung, der „Fortschritt“, veränderte Gefühle und Moden, Gewohnheiten der Einzelnen und Lebensauffassungen von Gemeinschaften. Das wurde zum Grundbass einer fiebrigen künstlerischen Produktion auf den unterschiedlichsten Gebieten, die Pasolini universell wie ein Leonardo virtuos bespielte: als Dichter und Romanzier, Filmregisseur und Theaterdramaturg, Maler und Kolumnist, Kritiker und Visionär. Er griff die Themen der Gesellschaft auf und wirkte wieder in sie hinein. Er überschritt Normen, provozierte und analysierte, wobei Vieles bis zum nachgelassenen Roman „Petrolio“, dessen deutsche Übersetzung gerade bei Wagenbach in einer Taschenbuchausgabe herausgekommen ist, fragmentarisch blieb. Doch: „Kein Vers und kein Akt, der nicht das Leben erhellt, (…) die politischen Hoffnungen und die Niederlagen“, schreibt Peter Kammerer zur Einleitung der Übersetzung der „Freibeuterschriften“ bei Wagenbach, die von 1978 an auch im deutschen Sprachraum das Interesse an diesem „modernen Häretiker“ wachsen ließ.

Deutsche Taschenbuchausgabe bei Wagenbach

Deutsche Taschenbuchausgabe bei Wagenbach

In allen großen Städten Italiens gibt es jetzt Ausstellungen zum Thema. Das Fernsehen zeigt Dokumentationen. Universitäten veranstalten Tagungen. Straßenkünstler verewigen ihn auf Hauswänden – zum Beispiel der Graffitistar Maupal ganz offiziell mit einem Murales in der Berufsschule „Pier Paolo Pasolini“ von Ostia. Die Kinemathek Bologna hat den Skandalfilm „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ restauriert. Da dürfen auch die Theater nicht fehlen, die aber weniger Pasolinis Stücke selbst aufführen als Arbeiten über Pasolini. Wie gerade im Mailänder Teatro Franco Parenti unter dem Titel „Wir sind alle in Gefahr“ ausgehend von seinem letzten Interview vor dem gewaltsamen Tod. Das Gerichtsverfahren ist derweil abgeschlossen, endgültig verurteilt wurde eine Einzelperson, ein Strichjunge. Doch bleiben gerechtfertigte Zweifel, ob nicht mehrere Täter am Werk gewesen waren. Auch einen politischen, rechtsradikalen Hintergrund will man nicht ausschließen.

Die Öffentlichkeit als Folie seiner Obsessionen
Walter Siti, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Pasolini-Ausgabe im Mondadori Verlag beklagt sich über „den Wind“, der allseits um die Person Pasolini gemacht wird, „um seinen Tod, seinen Körper, seine Homosexualität, seine prophetische Weitsicht.“ Dagegen würde kaum einer über seine Literatur reden, die sein Haupterbe sei. Der Umgang mit Sprache, die ersten Gedichte in friulanischer Mundart, die Romane über das Leben der römischen Peripherie oder das autobiographische und programmatische Epos „Gramscis Asche“. Aber vielleicht liegt das in der Person Pasolini selbst begründet. Wie kein anderer Intellektueller des vergangenen Jahrhunderts hatte er die Öffentlichkeit als Folie seiner Reflexionen und Obsessionen genutzt. Und ihr seine Widersprüche gezeigt wie ein Märtyrer seine Wunden: er war antiklerikal doch von christlicher Kultur durchzogen, ein Kommunist ohne Glauben an die Partei, von Trieben gedrängt und kritischem Denken geprägt.

Zeit seines Lebens hat ihn die italienische Gesellschaft verleumdet, verklagt, mit Prozessen überzogen. Vierzig Jahre nach seinem Tod droht Pier Paolo Pasolini die Heiligsprechung, während man sein Erbe wie ein Massenprodukt konsumiert – und damit verspielen könnte.

Erstveröffentlichung in kürzerer Form in Stuttgarter Zeitung vom 30.10.

Zum 40. Todestag von Pier Paolo Pasolini am 1. November haben Nina Hoss, Graziella Galvani, Leda Palma  im Deutschen Theater Berlin Gedichte auf friulanisch, italienisch und deutsch unter dem Titel: „Die schwarze Wut der Poesie“ gelesen.

Siehe auch den Beitrag von Peter Kammerer über Pasolini und die Rolle der Poesie