GEGEN DIE BARBAREI


Carl Wilhelm Macke:
Zum 100. Geburtstag von Giorgio Bassani (4. März 2016 )

copyright Centro Studi Bassaniani di Ferrara

Giorgio Bassani, (Bologna) 1916 – (Rom) 2000

Ferrara – In den Tagen unmittelbar nach dem Tod von Giorgio Bassani am 13. April 2000 erschien in der Lokalzeitung Nuova Ferrara immer wieder dasselbe Foto. Man sah Giorgio Bassani in Garten seines Hauses in der Via Cisterna del Follo sitzen und neben ihm eine junge Frau. Die Leser der Zeitung erfuhren nicht, wer diese Frau war. Es handelte sich um Heidemarie Stücker, eine junge deutsche Romanistin, die Ende der achtziger Jahre nach Ferrara gekommen war, um mit Bassani über sein Werk zu sprechen. Heidemarie Stücker, die inzwischen leider verstorben ist, war eine von jene auffallend vielen deutschen Lesern, die schon früh die Literatur von Giorgio Bassani bewunderten. Und am Tag nach dem Tod des Schriftstellers schrieb die Süddeutschen Zeitung, dass die Romane von Bassani in Deutschland immer eine ganz besonders große Resonanz gefunden haben.

Was können die Gründe für dieses große Echo der Werke von Giorgio Bassani gerade in dem Land gewesen sein, aus dem die Verantwortlichen der Deportationen und Vernichtung von Millionen Juden, darunter auch denen aus Ferrara, stammten?

Das Verdienst der 68er Bewegung

Die Übersetzungen der Romane und Erzählungen von Giorgio Bassani erschienen in Deutschland genau in den Jahren als man in diesem Land begann, sich leidenschaftlich mit der eigenen Nazi-Vergangenheit zu beschäftigen. Die fünfziger Jahre waren in Deutschland die „Jahre des Wirtschaftswunders“, in denen die Erinnerung an den Nationalsozialismus fast vollkommen verdrängt wurden. „Man vermied“, schreibt der Journalist Helmut Böttiger in einem Rückblick auf die fünfziger Jahre in Westdeutschland, „alles historisches Denken, man lebte und dachte nur für den Augenblick. Der Staat, die Politik spielten fast gar keine Rolle.“ Das änderte sich in den sechziger Jahren, vor allem mit der sogenannten „68er Bewegung“. In den letzten Jahre ist an dieser Bewegung sehr viel Kritik geübt worden und viele Einwände sind berechtigt. Aber es war auch ihr unbestreitbarer historischer Verdienst, die Diskussion über den Nationalsozialismus, den Faschismus, die Rolle der Institutionen und der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen an der Judenvernichtung auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Besonders in den bürgerlichen Familien gab es heftige Konflikte zwischen den Generationen über die Frage der Schuld während des Nationalsozialismus. Und an den Universitäten wurden theoretische und literarische Texte von antifaschistischen und jüdischen Emigranten wieder entdeckt, die man in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg vergessen oder verdrängt hatte.

Die Rolle der Exilkultur

Das Interesse an der deutschsprachigen Exilkultur, an der Familie Mann etwa, an Benjamin, Brecht, oder an der „Frankfurter Schule“ blühte auf. Man entdeckte auch die antifaschistische Literatur in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel die Romane des Spaniers Jorge Semprun, die Essays des in Belgien lebenden Österreichers Jean Amery oder des Franzosen Albert Camus. Die Tagebuchaufzeichnungen der Holländerin Anne Frank, die Romane italienischer Autoren wie Cesare Pavese, Alberto Moravia, Ignazio Silone, Primo Levi und eben auch die Werke von Giorgio Bassani.

copyright Cluverius

Der Dom von Ferrara

Im Mittelpunkt der Romane von Primo Levi stand die Realität in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Beppe Fenoglio hat von den Erfahrungen der „Resistenza“ gegen die deutsche Besatzung erzählt. In Filmen wie „Roma Città aperta“ von Roberto Rossellini wurde das Verhalten der Wehrmacht in Rom geschildert. Liest man die Romane und Erzählungen von Bassani mit deutschen Augen, fällt auf, wie sehr sein Interesse auf Italien, Ferrara und den italienischen Faschismus fokussiert ist. Natürlich darf man nicht vergessen, dass einige der Protagonisten in Bassanis Romanen nach Deutschland deportiert und dann in den Gaskammern der Nazis ermordet werden. Im Mittelpunkt steht bei Bassani aber das Versagen des italienischen Bürgertums, besonders des jüdischen Bürgertums in einer Provinzstadt wie Ferrara gegenüber der Inhumanität des Faschismus.

Der Faschismus und das Bürgertum

Für uns Deutsche war es immer irritierend, wie kritisch sich Bassani mit den vielen Widersprüche innerhalb der jüdischen Bourgeoisie Italiens auseinandersetzte. Gegenüber den Juden gab es in Nachkriegsdeutschland zwei vorherrschende Einstellungen. Entweder spürte man immer noch einen latenten, manchmal auch offenen Antisemitismus, oder man pflegte ein sehr manichäisches Weltbild: Es gab die Nazis und ihre Mitläufer auf der einen Seite und die Juden und die nicht-nazistischen Demokraten auf der anderen Seite. Tertium non datur. Aber jüdische Bürger, die, wie in Ferrara bis zu den Rassengesetzen von 1938 selbstverständlich mit den Faschisten sympathisierten, waren in Deutschland nicht vorstellbar. Durch die Lektüre der Bücher von Giorgio Bassani wurde man gezwungen, sich sehr viel genauer und differenzierter mit der Faszination des Faschismus auch auf das städtische, ja sogar das jüdische Bürgertum auseinanderzusetzen.

copyright Cluverius

Ferrara – Tafel zur Erinnerung an die aus der Stadt verschleppten Juden

Vielleicht haben die Bücher von Bassani im deutschen Publikum eine so erstaunliche Resonanz gehabt, weil sein Antifaschismus weniger bekennend, weniger parteilich war als der von vielen deutschen Exilschriftstellern. Seine Ablehnung des Faschismus war subtiler, feiner, stilvoller als in vielen deutschen Romanen gegen den Nationalsozialismus. Bassani schuf keine Helden, wie sie besonders für die antifaschistische Schullektüre der DDR typisch gewesen sind. Mit den Hauptfiguren und ihren Gefühlen in den Erzählungen von Giorgio Bassani konnte man sich leicht identifizieren (ganz besonders mit Micol in den „Gärten der Finzi-Contini“). Das bürgerliche, auch großbürgerliche Ambiente, in dem der „Romanzo di Ferrara“ angesiedelt ist, war den ebenfalls überwiegend bürgerlichen deutschen Lesern näher als etwa die proletarische Parteilichkeit der linken Schriftsteller aus der kommunistischen Tradition. Man fühlte sich den gesellschaftlichen Außenseitern zum Beispiel dem Doktor Fadigati besonders nahe, weil man diese spießige Provinzatmosphäre auch aus deutschen Städten kannte.

Schützt denn der Humanismus vor gar nichts?

Alfred Andersch, einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsschriftsteller und ein Zeitgenosse von Heinrich Böll, hat große Verdienste für die Verbreitung der Werke Giorgio Bassanis in Deutschland. In den Romanen von Andersch finden sich tatsächlich viele Parallelen zu Bassani. Auch Andersch beschäftigt sich immer wieder mit der Rolle des Bürgertums in der nationalsozialistischen Bewegung. „Schützt denn der Humanismus vor gar nichts?“ heißt es zum Beispiel in der Erzählung über den Altphilologen Professor Rex, dem der Vater des Massenmörders Heinrich Himmler als Vorbild diente. Von Alfred Andersch stammen die frühesten Würdigungen von Giorgio Bassani im deutschsprachigen Raum, zum Beispiel seine Laudatio anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises an Bassani im Jahre 1968. Und sein Essay „Auf den Spuren der Finzi-Contini“ gehört vielleicht zu den schönsten literarischen Texten über Ferrara und Giorgio Bassani.

Civiltà e cultura

Wenn man über Giorgio Bassani und Deutschland spricht, muss man natürlich auch seine Verehrung von Thomas Mann erwähnen. In der Familie Croce, mit der Bassani freundschaftlich verbunden war, wurde die Person und das Werk von Thomas Mann äußerst geschätzt. Der Briefwechsel zwischen Benedetto Croce und Thomas Mann in den dreißiger Jahren zeigt, wie sehr sich diese beiden großen europäischen Intellektuellen schätzten. „Civiltà e cultura“ ( Thomas Mann übersetzte diese Wörter nie) waren die zentralen Werte in diesen Briefen, die auch das Leitmotiv des Werkes von Bassani sind. In einem Gespräch anlässlich seines Besuches in Deutschland im Jahre 1970 erwähnt Bassani als einen weiteren für ihn vorbildlichen Deutschen auch noch den Sozialdemokraten Willy Brandt als einen Politiker, „der ähnlich denkt wie ich.“

copyright Cluverius

Im Nebel – Das Castello Estense im Zentrum von Ferrara

Neben dem Vorbild Thomas Mann und dem Bewunderer Alfred Andersch muss auch noch der Übersetzer Herbert Schlüter, erwähnt werden. Während zum Beispiel die frühen Übersetzungen der Werke von Cesare Pavese umstritten gewesen sind und es inzwischen bereits Neuübersetzungen gibt, galten die Übersetzungen von Herbert Schlüter immer als vorbildlich. Er hat es kongenial geschafft, die ganz besondere Sprachmelodie, die nüchterne, manchmal auch ironische und trotzdem oft so melancholische Färbung der Sprache Giorgio Bassanis ins ungleich härtere Deutsch zu übertragen. Wenn man über die große Resonanz der Werke von Giorgio Bassani in Deutschland spricht, muss man schließlich auch den Piper-Verlag in München erwähnen.

Piper und die Nachkriegszeit

Der Piper-Verlag gehörte in den Nachkriegsjahren sicherlich zu den renommiertesten Verlagshäusern der Bundesrepublik. Einige der Autoren des Verlages hatten eine überragende Bedeutung für die Entwicklung einer neuen demokratischen Kultur in Westdeutschland. Hier erschienen die Bücher von Karl Jaspers, einem der wichtigsten deutschen Philosophen in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Krieges. Und wer den Piper-Verlag erwähnt, denkt immer auch an Hannah Arendt, die man vielleicht weltweit zu den bedeutendsten jüdischen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts zählen kann.

Neben der Philosophie gehörte die Belletristik, vor allem die zeitgenössische italienische Literatur, zu den Schwerpunkten des Verlagsangebots. In den sechziger, frühen siebziger Jahren war der Piper-Verlag das wichtigste Tor für die zeitgenössische italienische Literatur, um zu den deutschsprachigen Lesern zu gelangen. Der damalige Leiter Klaus Piper war mit dem Feltrinelli-Verlag ganz besonders freundschaftlich verbunden. So erschien die Übersetzung des „Gattopardo“ von Tomasi di Lampedusa auch zum ersten Mal bei Piper. Und in dessen Schlepptau erschienen dann auch nach und nach die Werke von Giorgio Bassani, damals Lektor bei Feltrinelli, im Verlagshaus Piper. Neben dem „Gattopardo“ war der Roman „Il giardino dei Finzi-Contini / Die Gärten der Finzi-Contini“ für viele Jahre einer der ganz großen Erfolgstitel des Piper-Verlags. Im Piper-Verlag erschien auch der Band „Erinnerungen des Herzens“ , mit Texte von und über Giorgio Bassani des Oldenburger Politikwissenschaftlers Eberhard Schmidt, dessen Verdienste um die Verbreitung des Werkes von Bassani in Deutschland man nicht vergessen darf. Er war auch der letzte Deutsche, der den bereits schwerkranken Giorgio Bassani in seiner römischen Wohnung besucht hat.

Das Echo in deutschen Medien

Aus der Aufmerksamkeit des lesenden deutschen Publikums ist Giorgio Bassani schon in den letzten Jahren vor seinem Tod fast vollkommen verschwunden. „Fast“, denn die „Gärten der Finzi-Contini“ wird immer noch und immer wieder in sehr schön gestalteten Editionen vom Wagenbach-Verlag neu aufgelegt, der jetzt die Rechte an den Publikationen Bassanis besitzt. Hin und wieder erscheinen auch Beiträge im Rundfunk oder (gegenüber dem italienischen) immer noch sehr niveauvollen öffentlichen deutschen Fernsehen. Hervorheben muss man aber die vollständige Hörspielfassung der „Gärten der Finzi-Contini“, die vor einigen Jahren in einer Luxuspräsentation von 4 CD auf den Markt gekommen ist.

"Die Gärten der Finzi-Contini" bei Wagenbach

„Die Gärten der Finzi-Contini“ bei Wagenbach

Beim deutschsprachigen Lesepublikum gehört Giorgio Bassani heute nicht mehr zu den besonders favorisierten italienischen Schriftstellern. Hier sind Namen wie Antonio Tabucchi, Umberto Eco, Andrea Camilleri, Dacia Maraini, Claudio Magris, Ugo Riccarelli oder Roberto Saviano bekannt. Aber sein Rang als einer der bedeutendsten italienischen Schriftsteller der Nachkriegszeit bleibt unumstritten. Und seine Werke haben auch ihre Bedeutung für die Etablierung einer demokratischen Kultur im postfaschistischen Deutschland behalten.

Zivile und humane Werte

Wenn wir in Deutschland heute insgesamt ein so starkes System demokratischer Institutionen haben und auch bei den politischen Wahlen die extreme Rechte weniger Stimmen als anderswo erhält, hat das verschiedene Gründe. Aber hat dazu nicht auch ein wenig das große Echo der Romane italienischer Autoren wie Cesare Pavese, Primo Levi, Natalia Ginzburg und eben von Giorgio Bassani in der bürgerlichen Öffentlichkeit beigetragen?

Solange man sich in Deutschland der dramatischen und bis in unsere Tage hinein so verhängnisvollen dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert, so lange bleibt auch die Lektüre der Werke von Giorgio Bassani aktuell. Auch weil sie uns zivile, humane Werte vermitteln, die jenseits von Konsumismus und Egoismus liegen. Diese Tradition von „Zivilität gegen die Barbarei, von Klugheit gegen den Wahnsinn“ wie es einmal die Turiner Germanistin Barbara Allason geschrieben hat, könnte auch die Grundlage eines Europa sein, von dem wir träumen, dessen Widersprüche und interne Risse gerade in der Gegenwart immer schmerzhafter spürbar werden.