Abschlussbericht (Auszug)


Grenzen und Grenzüberschreitungen der Kultur: Hölderlin und Europa – Confini e sconfinamenti della cultura: Hölderlin e l’Europa. Villa Vigoni 28.5. bis 1.6. 2018

Loveno di Menaggio (CO) – Die das Projekt leitenden Ausgangsfragen waren auf eine eventuelle ‹europäische› Identität bzw. Zugehörigkeit gerichtet, die sich – nur scheinbar paradoxerweise – einzig durch Grenzüberschreitungen erreichen lässt. Solche Grenzüberschreitungen geschehen primär auf geistiger Ebene und resultieren folglich aus kulturellen Handlungen. Allerdings ist Kultur darüber hinaus an geopolitische Faktoren, wie Grenzen, Territorium, Vaterland und Heimat gebunden und dementsprechend nicht so frei, wie man sich das wünschen möchte, sondern kennt neben der territorialen und politischen auch eine geistige Kolonisation. Allerdings verfügt gerade die Kultur zugleich über die Mittel und die Kraft, eben diese Problematik zu reflektieren und sie daher nicht nur zu erkennen, sondern auch darin einzugreifen.

Die Zielsetzung der Tagung hat vor diesem Hintergrund eine starke politische bzw. kulturpolitische Dimension eingeschlossen (Europa vs. Nation/Vaterland), weshalb die Untersuchung vor allem der späten Dichtung Hölderlins, welche diese Konflikte vielfach mit Nachdruck thematisiert, im Zentrum stand; im Bewusstsein der europäischen Sprachenvielfalt, in der sich das Problem von Identität und Diversität konkret manifestiert, kam die Auseinandersetzung mit der Sprache als solcher, mit der Übersetzungstheorie sowie mit der Musik als universeller Sprache hinzu. Hiervon ausgehend galt es die Idee zu reflektieren, die ‹europäische Identität› als komplexe ‹Einheit in der Vielheit› zu denken. In diesem Sinne hat die wissenschaftliche Referentin der Villa Vigoni, Frau Dr. Caterina Sala Vitale, in ihren einführenden Worten das Projekt auch bereits explizit in das Programm des europäischen Jahres des Kulturerbes eingebettet, an dem die Villa sich beteiligt.

Gegenüber dem ursprünglichen Antrag hat es bis zuletzt sechs Absagen gegeben, die allerdings durch alternative Einladungen alle gut kompensiert werden konnten, so dass die Tagung das ursprüngliche Konzept des Projekts vollauf bestätigen konnte; wesentliche Abweichungen vom ursprünglichen Konzept sind deshalb nicht erforderlich gewesen: Interdisziplinarität (Philosophie, Germanistik, Musik), deutsch-italienische Kooperation und Einbindung von Nachwuchswissenschaftlern aus beiden Ländern. Gerade in Bezug auf Deutschland und Italien ist ja der Begriff der ‹Kulturnation› von prägender Bedeutung, da beide Staaten zuallererst durch Sprache und Kultur und bestenfalls im zweiten Anlauf auch als ‹Staatsnationen› mit zentralen Verwaltungsinstitutionen vereint wurden. Dieses historische Ineinandergreifen von Politik und Kultur hat dementsprechend den übergeordneten Schwerpunkt unserer Diskussionen gebildet.

Auf diese Thematik hat sich bereits der Eröffnungsbeitrag von Albert Meier bezogen, welcher den Begriff ‹Kulturnation› aus deutscher Sicht anhand seiner Verwurzelung in romantischem Denken erläuterte, indem er ihn von Fichte bis Meineke herleitete und dann mit Bezug auf Nietzsche und Thomas Mann in seinen semantischen Implikationen diskutierte. Während Nietzsche den Deutschen die Würde einer Kulturnation bestritt und nach wie vor eine kulturelle Hegemonie Frankreichs behauptete, brachte Mann die staatlich institutionell zentralisierende Mechanik, die Zivilisation und die Politik römischer Herkunft mit dem kulturell vielfältigen, pluralistischen Organismus Griechenlands und der Musik in Gegensatz, wobei in der Tradition Winckelmanns Deutschland als ‹griechische› Nation erschien.

Auf einen Begriff von Kulturnation, der zunächst als Mangel- und Kompensationsbegriff aufkam und sich erst später zu einem konservativen wandelte, antwortet Hölderlins Kosmopolitismus ante litteram, über den Elena Polledri referiert hat; die in seiner Dichtung zum Ausdruck kommende Konstellation von Eigenem und Fremdem war anschließend Thema des Beitrags von Jörg Robert: Konkret hat Polledri untersucht, wie Hölderlins Auffassung von Weltbürgertum dem französisch konnotierten Patriotismus opponiert (einige von Hölderlins Bildern und Metaphern wurden in diesem Zusammenhang auf ihren politischen Ursprung hin untersucht, speziell anhand von Hölderlins Wende zum Vaterländischen nach der Niederlage Napoleons). Mit Blick auf die Problembereiche ‹Übersetzung› (nicht nur aus der griechischen, sondern auch aus der lateinischen Kultur: translatio artium!) und ‹Heimat› hat Jörg Robert noch einmal hervorgehoben: Weil das Eigene nie gegeben, sondern immer nur aufgegeben ist, erweist sich alles Nationelle als etwas Hybrides, da der Zusammenhang zwischen Migration und Kulturtransfer sowie die Zweideutigkeit dieser Beziehungen für die Identitätsfindung wesentlich sind. Wie dann auch in anderen Beiträgen sowie im close-reading deutlich wurde, bildet bei Hölderlin in der Regel die jeweils letzte Strophe einer späten Hymne den Schlüssel, um auch das Voranstehende schlüssig interpretieren zu können. In der Diskussion wurde betont, dass gerade diese Eigenheit Hölderlins zusammen mit der Tatsache, dass seine ebenso parataktische wie metaphorisch/metonymische Sprache das eminent Musikalische an seiner späten Dichtung ausmacht. Seine Worte ‹bedeuten› nicht, sondern ‹sind›, was sie sagen.
Der Begriff von Heimat, die Möglichkeiten des Übersetzens und die unterschwellig immer anwesende Musik bildeten die Schwerpunkte des Beitrags von Markus Ophälders, der ‹Heimat› als etwas immer Zweideutiges charakterisierte, was sie mit der Musik aufs Engste verbindet, die Thomas Mann als zum System erhobene Zweideutigkeit definiert hat, da sie wesentlich auf Verhältnissen beruht (Verhältnisse zwischen Logischem und Emotionellem, Fremde und Heimat, Logos und Mythos etc.). Heimat im engeren Sinne ist insofern etwas immer schon Verlorenes: Sie ist in sich selbst unheimlich, bewahrt zugleich aber auch ein utopisches Moment. Wie die Variation in der Musik ist auch Heimat Ausdruck von immer wieder sich übersetzenden Verhältnissen und von daher nicht an Orte, Zeiten oder bestimmte Sprachen und Kulturen gebunden. Musik und Heimat sind ewige Wiederkehr des immer wieder Neuen und müssen als Reflexionsmedium stets konstruiert werden.

In diesem begrifflichen und hermeneutisch-interpretativen Rahmen wie ihn die Veranstalter vorgegeben haben, fanden daraufhin die sog. Doktoranden-Kolloquien mit eindrucksvollen Vorträgen und intensiven Diskussionen statt; theoretisch-begriffliche, aber auch ethische, ästhetische und politische Ansätze haben dabei zu interessanten Vermittlungen, aufschlussreichen Lektüren und neuen Einsichten geführt.
Im Einzelnen hat sich der wissenschaftliche Nachwuchs aus Deutschland und Italien (wobei einige Teilnehmer italienischen Ursprungs in Deutschland arbeiten und veröffentlichen) in zwei distinkte Gruppen unterschieden: Literaturwissenschaft und Philosophie.
1) Literaturwissenschaft: In der hermeneutisch-interpretativen Auseinandersetzung vor allem mit Hölderlins späten Hymnen sind vor allem die folgende Thematiken, Probleme und Momente schwerpunktmäßig diskutiert worden: Mythos und Kulturnation, geschichtliche Zyklizität und Übersetzung sowie die kulturelle Wanderung von Griechenland nach Deutschland (Moritz Strohschneider), der Begriff des Vaterlands, seine Mehrdeutigkeit und sein Europabezug im Sinne einer Pluralität der Vaterländer sowie der Kosmopolitismus, aber auch der nicht allein kultur-nationalistisch motivierte Missbrauch Hölderlins (Sina Röpke, Dorothea Müller, Maike Schmidt), die von Hölderlin gewählten Ausdrucksformen und ihre kulturpolitische Relevanz in Bezug auf Europa (Astrid Dröse), politisches Engagement und darauffolgender Rückzug aus dem gesellschaftlichen Geschehen hin zu den grenzüberschreitenden Möglichkeiten von Freundschaft (Erik Schilling), die Übersetzungstheorie bei Hölderlin und Benjamin in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Sprachen und das der einzelnen Sprachen zum Ausdruckslosen (Marta Vero), die Fremderfahrung innerhalb der Sprache und ihre nie vollkommene Übersetzbarkeit in logisches, rationales Denken (Florian Telsnig), die gegensätzlichen hermeneutischen Ansätze Heideggers und Szondis und die jeweilige politische Relevanz derselben für Deutschland (Simon Hansen).
2) Philosophie: Von diesen Vertretern des wissenschaftlichen Nachwuchses ist vor allem versucht worden, begriffliche Arbeit zu leisten, wobei teilweise die Musik etwas mehr im Vordergrund stand, wenn es um geopolitische Vermittlungen und um kulturelle Kolonialisation durch verschiedene Sprachen als Bewegung von Aneignung und Entfremdung ging oder um die Frage, wie sich unsere Identität verändern würde, wenn wir statt der divergenten Volkssprachen die universale Musik einsetzen würden (Pier Alberto Porceddu Cilione) oder wo von Musik im Sinne Benjamins als reiner Sprache ohne metaphorischen Raum in der Konstellation von Geschichte, Sprache und Leben bzw. Überleben gesprochen wurde (Nicolò Pietro Cangini); Hölderlin wurde in strukturalistischer Hinsicht kritisch als Übersetzer unter die Lupe genommen, wobei übersetzungstheoretisch grundlegende Phänomene wie Aphasie und Entfremdung zur Sprache kamen (Lorenzo Pizzichemi); es wurde Karl Kerényis mythologisch-morphologische Interpretation Hölderlins vorgestellt, die sich gegen Heideggers und Ottos prophetische Lesarten richtet und in der Ergriffenheit mit Primat des Objekts begründet liegt, wobei interessante Verbindungen zur Frankfurter Schule deutlich machten, dass diese ebenfalls so bezeichnete Denkrichtung in Italien offenbar sehr viel stärker Fuß gefasst hat, als in Deutschland (Antonio Roselli); Adornos Begriffe der Parataxis, des Mythos, des Scheins und des Nichtidentischen sowie seine gegen Heidegger gerichtete Interpretation von Hölderlins dichterischer Sprache, in der die Form zentral und das Objekt dem dichterischen Ich übergeordnet ist wurden ebenso analysiert (Nicola Patruno) wie der idealistische Begriff von Identität als Verhältnis zu sich selbst und zum Anderen, demzufolge Europa nicht allein als geschichtliche Gegebenheit zu betrachten wäre, sondern ebenso als begriffliche Aufgabe (Giacomo Croci); in diesem Zusammenhang wurde Hölderlins Beitrag zum Ältesten Systemprogramm als Projekt einer ästhetisierenden revolutionären Politik gelesen und Hyperion als Allegorie Europas aufgezeigt (Mario Farina).
Den Abschluss bildete ein kollektives, von Elena Polledri und Moritz Strohschneider geleitetes close-reading zu den vier letzten Strophen von Der Rhein, wobei das Plenum in drei Gruppen aufgeteilt war, um unterschiedliche Methoden bzw. Erkenntnisinteressen im kritischen Zusammenspiel fruchtbar zu machen: deutsche Germanisten, italienische Germanisten und Philosophen, wobei den Zweisprachlern auch die italienischen Standard-Übersetzungen zur Verfügung standen. Es wurden zwei verschiedene Resultate erreicht:

1) Hölderlin setzt eine zyklische Zeitstruktur durch Gegensätze in Szene, die allerdings zweideutig bleibt.
2) Es herrscht ein Miteinander der Gegensätze, d.h. Ausgleich und Maß, was ethisch relevant werden kann.

Der eigentliche Ertrag ist in den ergiebigen, tiefgehenden und produktiven Diskussionen zu sehen, die auf organisch ineinandergreifende Beiträge reagiert haben, die alle auf dem neuesten Stand der Forschung standen und teilweise neue Ausblicke eröffnet haben. Dies hat zu vielfältigen neuen Möglichkeiten der Reflexion darüber geführt, wie eine auf Kultur begründete europäische Identität in der Zukunft aussehen könnte, was in gewisser Weise selbst praktische Anwendungsparameter in Aussicht stellen könnte. Dies jedoch ist noch ein weites Feld, das wohl erst in folgenden, denkbaren Untersuchungen und Auseinandersetzungen abgeschritten werden kann.

Kurze Schlussworte griffen den während der Diskussionen gefallenen topos einer Weimarisierung der Welt auf, da dies im Grunde hinter den vielfältigen kulturellen Versuchen der Zeit stand, in der Hölderlin lebte und in der das ‹klassische› Bildungsideal aufkam. In musikalischer Hinsicht hat dies 1999 in der damaligen europäischen Hauptstadt der Kultur Weimar bereits begonnen, Wirklichkeit zu werden: Das von Daniel Barenboim und Edward Said gegründete West-Eastern Divan Orchestra gab im August 2005 in Ramallah als einem der am wenigsten für Vaterland oder Heimat, Identität oder Zugehörigkeit geeigneten Territorien sein weltweit gehörtes Konzert.
Zum eigentlichen Abschluss wurden noch zwei Kompositionen angehört, die beide Texte von Hölderlin behandeln, welche den Teilnehmern in der Form von Photokopien zur Verfügung standen:

1) György Kurtág, Gestalt und Geist, für Bariton und Posaune (aus den Hölderlin-Gesängen)
2) Heinz Holliger, Winter (III), für Chor und Ensemble (aus dem Scardanelli-Zyklus).

Hierbei lag das Augenmerk darauf, dass das erste Stück den zugrundeliegenden Text semantisch-phonetisch klar verstehen lässt, während dies beim zweiten überhaupt nicht der Fall ist, da hier die Musik die, wenn man will, semantische Aufgabe übernimmt und den literarischen Text vollkommen in einen musikalischen übersetzt. Bei der nachfolgenden kurzen Diskussion hat sich gezeigt, dass das Experiment Erfolg gehabt hatte, da das zweite Stück ziemlich eindeutig von allen bevorzugt wurde.