ACH, IHR AUGES ZAUBERBLICK


Mailand, die Scala und die Saisoneröffnung 2013/14 mit der Traviata

copyright Teatro alla Scala

Alfredo (Piotr Beczala) und Violetta (Diana Damrau)

Mailand (Dezember 2013) – Es gibt Tage, da erkennt man den nasskalten Dezember nicht mehr. Ein blauer Himmel spannt sich über der Stadt, die Luft ist klar und am nördlichen Horizont steigt majestätisch der Monte Rosa aus dem Alpenbogen. Den kann man etwa von den Fenstern der Sala Cecchetti aus bewundern, dem Probenraum für das Ballett im obersten Stockwerk des mächtigen Bühnenturms des Teatro alla Scala, der sich 56 hoch über der Innenstadt erhebt. Bei geöffneten Fenstern leuchten die Berge sogar auf der gegenüberliegenden Spiegelwand, die die gesamte Stirnseite des Raumes einnimmt.Tänzerinnen und Tänzer haben jedoch in diesen Tagen kaum Zeit für Ausblicke. Die Eröffnung der kommenden Spielzeit steht bevor, der 235. in der Geschichte. Wie jedes Jahr am Ambrosiustag, am 7. Dezember, wenn das Foyer und der Zuschauerraum festlich mit 3000 Rosen in Weißrosa, Fuksia und Bordeauxrot geschmückt ist. Dazu kommen 500 Kamelien, denn auf dem Programm steht mit „La Traviata“ Giuseppe Verdis grandiose Musikfassung der „Kameliendame“ von Alexandre Dumas. Es ist jedes Jahr ein Spektakel um das Spektakel, das die Blumen zusammen mit den Golddekorationen des hufeisenförmigen Zuschauersaals veranstalten, wo sechs Ränge mit 146 meist rot ausgeschlagenen Logen der Scala eine nostalgisch-festliche Atmosphäre geben.

Mit der Aura des Geheimnisvollen
Da darf man unter der musikalischen Leitung von Daniele Gatti und der Regie von Dmitri Tschernjakov auch keine extrem moderne Inszenierung der Traviata erwarten, die 1853 zum ersten Mal in Venedig am Teatro La Fenice aufgeführt wurde. Gatti, der im für ihn typisch grauen Anzug und schwarzen Rollkragenpullover vor ein paar Tagen in der überfüllten Aula Magna der Università Cattolica über Verdi plauderte, deutete eine eher „psychologische“ Interpretation an. Er sei sich mit Tschernjakov über die „klaustrophobische“ Grundstimmung der Oper einig, weil sich alle Szenen in geschlossenen Räumen abspielen. Das werde eine „intime“ Traviata werden, bei der auch die Zahl der Chorsänger reduziert sei. Viel mehr wollte der Dirigent aber nicht verraten.

Es gehört zum Ritus der Saisoneröffnung, die Aufführung mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben. Auch wer sich in diesen Tagen das Gebäude der Scala zeigen lässt, wird geschickt von hinten über die seit dem Umbau 2004 mit allen technischen Tricks ausgestattete Bühne geführt, dass er kaum einen Blick auf die Aufbauarbeiten für das Bühnenbild werfen kann. Im Ohr bleiben Hammerschläge und das surrende Geräusch von Elektroschraubern, wo bald das fröhliche „Libiamo ne’lieti calici“ („Auf, trinket in durstigen Zügen“) erklingen wird. Und rund eine Million Menschen werden auf der ganzen Welt durch Direktübertragungen im Radio und im Fernsehen (unter anderem bei Arte ab 20.15 Uhr um zwei Stunden versetzt) dabei sein.

Die Scala, zu der auch eine Akademie zur Ausbildung von Bühnenberufen gehört, hat einen Ruf wie Donnerhall. Doch lebt das Theater, das 1778 an Stelle der Kirche Santa Maria alla Scala von Giuseppe Piermarini errichtet wurde, vor allem aus seinem Mythos. Immerhin, da sind sich die meisten Kritiker einig, gehört es mit zu den führenden Opern- und Ballett-Einrichtungen des Kontinents. In den vergangenen Jahren konnte es unter der Direktion von Intendant Stéphane Lissner (der auch künstlerischer Leiter ist) und Daniel Barenboim als Musikdirektor seine Position stärken. Lissner, der mit der Traviata seine letzte Saisoneröffnung feiert, wechselt im Herbst 2014 an die Pariser Oper. Er habe in den vergangenen neun Jahren der Scala mit „Herz und Seele“ gedient, wie er im Gespräch sagt. Nur innerhalb dieses Theater könne man wirklich verstehen, dass es „unvergleichbar“ sei. Das gilt nicht nur für den Intendanten. Vor allem für Sänger und Sängerinnen ist der Auftritt auf der Bühne Verdis noch immer etwas Besonderes.

Copyright Teatro alla Scala

Im Spiegel – Diana Damrau 

Eine Herausforderung für Diana Damrau
Auch für Diana Damrau, die erste „blonde“ Violetta, wie die Lokalmedien über die bayrische Sängerin aus Günzburg schrieben. Zefferillis Traviata-Verfilmung weckte in ihr einst den Wunsch, Opernsängerin zu werden. Nun übernimmt die 42jährige, die mit dem italienischen Bariton Nicola Testé verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat, ausgerechnet im Jubiläumsjahr zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi die Titelrolle an der Scala. Eine Rolle, in der hier einst Maria Callas (die am Montag 90 Jahre alt geworden wäre) oder Renata Tebaldi begeisterten. „Das ist eine tolle Herausforderung,“ sagt Diana Damrau in einem Interview mit dem Corriere della Sera. Als Violetta wurde sie zuletzt an der New Yorker Met und in Zürich umjubelt. In Mailand fühlt sie sich (an der Seite von Piotr Beczala als Albert) von Dirigent und Regisseur bei der Herausarbeitung der vielschichtigen Persönlichkeit der schönen und kranken Kurtisane getragen – aber die Proben seien „eine Ziselierarbeit“.

Ziselierarbeit müssen auch die Schneiderinnen und Handwerkerinnen leisten, die ihrem Kostüm den letzten Schliff geben. Ausgangspunkt sind die Werkstätten der Scala im Komplex der ehemaligen Stahl- und Motorenfabrik Ansaldo unweit der Porta Genova. Hier ziehen fleißige Hände Perle um Perle für Violettas prächtigen Kettenschmuck auf.

Die phantastische Welt der Werkstätten
Innerhalb der Werkstatt, wo Kostüme von rund einhundert Inszenierungen aufbewahrt werden, bildet eine Reihe von Vitrinen so etwas wie eine Art kleines historisches Museum. Unter anderem mit dem dunkelroten, mit Schmuckstücken reich besetzten Kleid der Violetta aus der letzten Traviata-Aufführung an der Scala von 1989 in der Regie von Liliana Cavani (Dirigent: Ricardo Muti), das die Oscar-Preisträgerin Gabriella Pescucci entworfen hatte. Nebenan stapeln sich in den Regalen Stoffballen aller Art, leuchtend Blaue, blass Grüne, hell Gelbe, das ganze Farbenspektrum in allen möglichen Musterungen. Und gegenüber zieht sich eine schier endlose Reihe von kleinen Klarsichtbehältern mit Knöpfen, Knöpfen und nochmals Knöpfen.

In einem kleinen Nebenraum legen der Tischler Enrico und seine Mitarbeiterin Susanna letzte Hand an den goldenen klappbaren Stehspiegel, der strahlend Violettas Ebenbild wiedergeben soll. Was wie Blattgold aussieht, das sie auftragen, ist „Semi d’oro“, eine Lage gold gefärbte Aluminiumblätter. Noch wissen sie nicht, ob auch die Rückwand des Spiegels sichtbar werden kann. Das Semi d’oro wäre zu aufwendig, so streichen sie es zur Sicherheit mit Goldfarbe.

Eine Kette von Bastelkammern
Die Welt der Werkstätten ist eine Kette von Bastelkammern, die ineinander greifen: Schneiderei, Stickerei, Hutmacherei, Wäscherei, Schuhmacherei. Dazu kommen im Theater noch die Perückenmacher – die nur mit echten Haaren arbeiten ,wie sie versichern, – und Friseure und Visagisten. Wo man auch hinkommt, mit wem man auch spricht, überall spürt man das Engagement und die Begeisterung derjenigen, die wissen, dass für eine Aufführung der Scala nur das Beste gut genug ist. Manchmal kommt auch Nostalgie auf. Die Schneiderin Gabriella, die seit 40 Jahren mit dabei ist, sagt dass früher der Zusammenhalt größer, die Scala „eine Art Familie“ war. Die Kollegen bleiben auch über Arbeitschluss hinaus in der Werkstatt. Heute wird schnell die Arbeitskarte abgestempelt und „dann ab nach Haus“. Es gäbe mehr Aufführungen als früher und alles sei schneller geworden.

Die Scala hatte im vergangenen Jahr 459 Tausend Besucher bei rund 280 Aufführungen  (darunter 82 Opernabende mit zuletzt zehn Titeln). Der Etat von rund 110 Millionen Euro wird zu nicht einmal 40 Prozent von der öffentlichen Hand gefördert. Das Haus kann auf 17 Tausend treue Abonnenten zählen – im Vergleich dazu kommt die Oper in Rom nicht einmal auf 4 Tausend.

Der Stolz der Mailänder auf ihre Oper
Das zeigt auch, wie verwurzelt die Bühne in der Stadt ist. Die Mailänder sind stolz auf ihre Oper – auch diejenigen, die sich vielleicht einen Besuch gar nicht leisten können oder nicht einmal sonderlich für Musik interessieren. Die Scala ist ein Symbol für die Lebenskraft und die Eleganz dieser Stadt. Das wurde bereits nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich, als es um den Wiederaufbau der von Fliegerangriffen weitgehend zerstörten Innenstadt ging. Das Opernhaus gehörte zu den ersten öffentlichen Gebäude, die wieder hergestellt wurden. Arturo Toscanini eröffnete das Haus im Mai 1946 mit einem Konzertabend unter anderen mit Renata Tebaldi vor rund 3000 Besuchern. Draußen standen mehrere Tausende Menschen auf der Piazza della Scala und in den Nebenstraßen, in die das Konzert mit einer „Batterie von Lautsprechern“, so ein Zeitungsbericht, übertragen wurde.

In diesem Jahr sind Verdi-Klänge bereits eine ganze Woche lang vor der Premiere durch die Galleria zwischen Domplatz und Piazza della Scala gezogen und haben Metro-Bahnhöfen und Tram-Haltestellen umspielt. In der GAM (Galleria dell’Arte Moderna) hat gerade eine Ausstellung über Verdi und die bildende Künste begonnen. Das Museo della Scala, das vor genau 100 Jahren eröffnet wurde, feiert in einer Multimediaschau sich selbst. Das Comic-Museum „Spazio Wow“ präsentiert Verdi-Opern in den Zeichnungen von Carlos Gomez bis Albert Uderzo oder in alten Liebig-Bildern. Und stellt einen Nachbau des Teatro alla Scala in 30 000 Legosteinchen aus. Die Premiere wird dann unter anderem in rund ein Dutzend Kinos der Stadt (und weitern 150 in ganz Italien) live übertragen, dazu ins Niguarda-Klinikum und ins San-Vittore-Gefängnis auch. Jugendliche unter 30 Jahren durften bereits zum Preis von 10 Euro der Voraufführung am 4. Dezember bewohnen.

Alle Aufführungen der Traviata („Ach, ihr Auges Zauberblick“) bis zum 3. Januar sind bereits ausverkauft. Für die Premiere werden der Staatspräsident und Honoratioren aus ganz Europa erwartet. Wie jedes Jahr spiegeln sich die Schönen und Reichen der Stadt in diesem Rahmen. Auf dem Schwarzmarkt werden Karten bis zu 8000 Euro angeboten. Und am Ende bekommt jede Besucherin eine Avelanche Rose überreicht.

Auf Youtube ist ein Mitschnitt der Inszenierung zu sehen