Die Anglistin Aleida Assmann und ihr Ehemann, der Ägyptologe Jan Assmann, haben zusammen das Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ entwickelt. Dafür wurden sie jetzt mit dem Balzan Preis 2017 ausgezeichnet. Ein Gespräch mit Ihnen über die langen Wellen der Erinnerungskulturen vom alten Ägypten bis zur aktuellen Gegenwart.
Mailand/Bern – Aleida Assmann und Jan Assmann sind ein außergewöhnliches Ehepaar. Als Wissenschaftler pflegen sie extrem entgegen gesetzte Fachrichtungen. Sie, geboren 1947, hat sich als Anglistin und Literaturwissenschaftlerin einen Namen gemacht und mit Gegenwartsfragen beschäftigt. Er, geboren 1938, ist einer der bekanntesten deutschen Ägyptologen und Religionswissenschaftler. In Bern wurde ihnen jetzt der Balzan Preis überreicht. In einem Gespräch, das den breiten Bildungs- und Interessenshorizont der beiden Wissenschaftler nur andeutungsweise sichtbar werden lässt, geht es um Moses und Thomas Mann, um afrikanische Greise, die Rolle der Medien oder die Folgen der anhaltenden Migrationsbewegungen für die Erinnerungskultur in unseren Städten
Als Aleida Assmann aufgrund des wachsenden Familienlebens dem Universitätsleben für ein gutes Jahrzehnt den Rücken kehrte, wollte sie nicht aus der Wissenschaft aussteigen. Gemeinsam suchte das Paar fachübergreifend in einem Arbeitskreis ausgehend von den Gedanken des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis sich mit grundlegenden Kulturfragen zu beschäftigen. Dabei ist das Konzept vom kulturellen Gedächtnis und seine Bedeutung für die Identität von gesellschaftlichen Gruppen wie auch für Völker und Nationen entstanden.
Vor 40 Jahren, also um 1977 herum haben Sie gemeinsam angefangen, sich mit Erinnerung, Geschichte und Identität zu beschäftigen und das Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ entwickelt. Wie ist es dazu gekommen?
Aleida Assmann: „Ja, wir haben ein Jubiläum. Der Balzan Preis ist jetzt ein besonderer Anlass, darüber nachzudenken. Wir haben uns dieses Thema des kulturellen Gedächtnisses nie bewusst vorgenommen. Wir sind darüber gleichsam gestolpert. Es gab dann viele Hinweise und Denkanstöße, die uns in diese Richtung bestätigt haben. Das Wesentliche war eigentlich, dass wir den Zusammenhang von Überlieferung, Kultur, Identität und Geschichte in vielen Beispielen in unserer aktuellen Gegenwart vor uns sahen. Ein Beispiel war, die bis damals nicht schriftverwendeten Gedächtniskulturen, die angefangen hatten, sich zu verschriftlichen. Da war dieser Satz: ‚Mit jedem Greis in Afrika der stirbt, verbrennt eine Bibliothek‘, den der Schriftsteller und Anthropologe Amadou Hampâté Bâ formuliert hatte. Das hat uns fasziniert, weil wir darauf gestoßen wurden, dass man keine Schrift braucht, um ein kulturelles Langzeitgedächtnis zu entwickeln. Das geht auch durch mündliche Traditionen, Performances, Aufführungen und dergleichen. Wir haben damals einen Arbeitskreis gegründet, in dem wir über Fachgrenzen hinweg kulturelle Grundlagenforschung betrieben. Im Nachhinein konnten wir feststellen, dass wir uns damit unsere eigene Form von ‚Kulturwissenschaft’ erfunden hatten.“
Eine spannungsvolle Beziehungsgeschichte
Jan Assmann: „In unser Konzept sind für uns mehrere wichtige Einsichten eingegangen. Ich habe etwa in meinem Buch ‚Das kulturelle Gedächtnis’ Ägypten mit Israel, Mesopotamien und Griechenland in eine Konstellation gebracht und gezeigt, dass Kulturen keine abgeschlossenen Einheiten bilden, sondern ineinander greifen und aufeinander reagieren. Das kulturelle Gedächtnis von Europa erweist sich in diesem Sinne als eine spannungsvolle Beziehungsgeschichte. Außerdem, und darauf hat Aleida gerade hingewiesen: Als wir vor 40 Jahren mit unserer gemeinsamen Arbeit begannen, spielte der Gegensatz zwischen ‚fortgeschrittenen’ Schriftkulturen und ‚geschichtslosen’ Gedächtniskulturen noch eine Rolle. Vor diesem Hintergrund haben wir das Konzept des kulturellen Gedächtnisses als einen Oberbegriff für die Stabilisierung der Überlieferung entwickelt, die sowohl durch Schrift als auch durch Mündlichkeit und Riten erreicht werden kann. Und schließlich kam es von Anfang an darauf an, den damals noch selbstverständlichen eurozentrischen Horizont zu durchbrechen und unsere Untersuchungen auf außereuropäische Kulturen auszudehnen.
Aleida Assmann: „Andere Impulse ergaben sich durch der Medienwechsel der 1980er Jahre. Wir fingen an, mit PCs zu hantieren. In den 1990er Jahren kamen die in die Haushalte und langsam hat sich das Schreiben umgestellt. Das heißt die Schrift selbst hat ihren Charakter geändert und damit natürlich auch die Überlieferung auf eine neue Grundlage gestellt. Dann aber war es die große Geschichte selber, die uns wieder eingeholt hat. In vierzig Nachkriegsjahren, von 1945 bis 1985, war die Geschichte Deutschlands abgelegt, blieb im Rücken, war Vergangenheit. Und die hat uns dann mit dem Historikerstreit wieder massiv eingeholt.“
Gerade in der Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte zeigt sich, das verschiedene Gruppen unterschiedlich eingefärbte Erinnerungen haben können. In Italien wurde kürzlich der Gegensatz zwischen den Erinnerungen der Soldaten der Mussolini-Republik und den Mitgliedern der Resistenza deutlich. Das waren zwei verschiedene Gedächtnisse.
Dissonanzen und Beschönigungen
Aleida Assmann: „Das ist durchaus üblich in Gesellschaften, dass es keine Einheitlichkeit gibt. Dass da ein großer Dissens besteht. Was es allerdings gibt, ist so etwas wie ein nationaler Rahmen, der aufgebaut wird durch Denkmäler und Gedenktage. Aber es gibt immer das Problem des Dissenses, dass sich viele Menschen in einem Land nicht wieder erkennen in den offiziellen Symbolen. Weil sie ihre Geschichte noch nicht anerkannt bekommen haben oder weil sie sie inhaltlich in einem anderen Deutungsrahmen sehen. Ich denke hier auch an die Familiengeschichte, der Deutschen, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurück kamen und ihr Familiengedächtnis weiter gegeben und ihre Kinder sozialisiert haben. Die Kinder aber gingen dann in die Schulen und hörten eine ganz andere Geschichte. Es gab da sehr viel Dissonanz. Und die Dissonanz hat auch dazu geführt, dass irgendwann die Enkel, die in diesem neuen Rahmen sozialisiert wurden, ihre Familiengeschichten angeglichen haben, dass sie passend wurden. Also Opa war kein Nazi primär, sondern ‚er hat auch den Juden geholfen’. Also sie haben beschönigt, um besser in den Rahmen zu passen.“
Das Faszinierende an Ihrem Konzept ist nicht nur der interdisziplinäre Ansatz, den sie beide durch ihre unterschiedlichen Fachgebiete repräsentieren, sondern der unglaublich breite Zeitrahmen, den er umgreift. So darf man auch den Ägyptologen nach Moses fragen. Welche Bedeutung spielt er in der Erinnerung?
Jan Assmann: „Der historische Moses ist uns nicht zugänglich. Es gibt keine zeitgenössischen Quellen. Was wir über Moses wissen, steht alles in der Bibel und in parabiblischen Texten. Das müssen wir als eine literarische Figur nehmen. Die kann natürlich einen Kern von Wahrheit haben, aber an den kommen wir nicht dran. Man kann aber davon ausgehen, das was immer dieses Körnchen Wahrheit ist, das hat sehr wenig zu tun mit dem, was in der Tradition daraus geworden ist. Das ist für uns eigentlich das verbindliche Element. Das ist jetzt nicht irgendeine Topfscherbe, auf der nun tatsächlich mal dieses Körnchen Wahrheit über Mose, Sohn des Amram, zu finden wäre, sondern das ist der Moses der Tradition, das steht in den Büchern 2 – 5 des Pentateuch und auf eigenartiger Weise nur in ganz wenigen Texten außerhalb des Pentateuch. Das ist das, was wir haben und worauf sich die jüdische Religion gründet und natürlich auch das Christentum und auch der Islam. Also Musa ist dort eine Zentralfigur. Aber das gehört alles ins Reich der verbindlichen Imagination, ins Reich der Erzählung.“
Der Gebrauch von Erinnerung
Das Buch Exodus erzählt nun, wie Moses das Volk Israel aus Ägypten ins gelobte Land führt. Ein historisches Ereignis?
Jan Assmann: „Tatsächlich haben wir es mit einer Wende zu tun, deren historische Darstellung der Auszug aus Ägypten ist. Auch das ist kein historisches Ereignis, das ist eine Narration, das Gründungsnarrativ dieser neuen Religion. Die ist ausgezogen aus einer Welt für die das alte Ägypten steht und die ist eingezogen in eine Welt, für die der Bund mit dem Gott, mit Adonai Yahweh steht. Das ist eine völlig neue, revolutionäre Idee, dass man mit Gott einen Bund schließt. Um dahin zu kommen, um in das einzusteigen, muss man aussteigen. Und das wird im Buch Exodus erzählt. Es handelt sich um eine Wende. Jetzt kann man sich fragen, wann in der Geschichte hat denn so etwas stattgefunden? Und da haben wir unsere Methode der Gedächtnisgeschichte. Da fragt man nicht, was ist denn da passiert, mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, sondern da fragt man sich, wann wurde diese Erinnerung gebraucht?“
Und wurde sie gebraucht?
Jan Assmann: „Und die wurde gebraucht, als das Königreich Israel, das Königreich Juda unterging und die Juden ins Exil nach Babylon getrieben wurden. Da wurde diese Erinnerung gebraucht. Man hat alles verloren, Land und Stadt, Königtum, Tempel und Kult. Und woran man sich jetzt halten kann, ist der Bund mit Gott. Diese ganze Tradition geht natürlich weit zurück, sie ist, sagen wir mal, drei-, vierhundert Jahre alt, die Propheten, das kam ja alles vorher. Das wird jetzt zusammen gefasst und kodifiziert in diesen fünf Büchern Mose, die Form, die das damals schon annahm. Und wird auf den Gedanken der Offenbarung des Bundes gebracht. Das gehört also ins 6. Jahrhundert vor Christus.“
Thomas Mann hat in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ tief in diesen „Brunnen der Vergangenheit“ geschaut. Thomas Mann ist wie Sie, Herr Prof. Assmann, in Lübeck aufgewachsen. Was verbindet Sie mit ihm?
Jan Assmann: „Natürlich verbindet mich Lübeck mit Thomas Mann. Er hat ja eine Rede gehalten über Lübeck als geistige Lebensform. Von dieser geistigen Lebensform Lübeck habe ich so einiges mitbekommen. Dann bin ich ja nach Heidelberg gekommen, das hat auch eine sehr ausgeprägte geistige Lebensform. Thomas Mann spielte eine Rolle in meinem Elternhaus und später in der Familie bei uns. Zum Beispiel ‚Der Zauberberg’, den haben wir uns vorgelesen. Mein Lieblingsbuch von Thomas Mann ist ‚Doktor Faustus’ und nicht ‚Joseph und seine Brüder’. Aber natürlich verbindet mich mit diesem Buch, man könnte auch sagen, trennt mich von diesem Buch, Ägypten. Also ein Ägyptologe ist nicht der implizite Leser dieser Romane. Die haben eine unglaubliche Faszinationskraft für Menschen mit einer ungefähren Vorstellung vom alten Ägypten, aber nicht für Leute, die das nun professionell betreiben und einfach nicht absehen können von diesem völlig verzerrten Bild Ägyptens, das auf Bachofen beruht und auf Mereschkowski. Das ist für mich ein bisschen problematisch, aber ich habe mich viele Jahre lang sehr gründlich mit diesem Roman beschäftigt, weil ich mit Kollegen zusammen einen Kommentar geschrieben habe über die Josephsromane. Die müssen natürlich kommentiert werden, da steckt so unendlich viel Wissen drin, das Thomas Mann sich dafür angelesen hat. Er war ja ein poeta doctus. Das will natürlich im einzelnen erläutert werden: wo hat er das her?“
Ein Art Erinnerungsroman und kein historischer Roman?
Jan Assmann: „Das ist schon als ein historischer Roman gemeint. Gemeint als eine Erzählung, die so genau wie möglich ins 14. Jahrhundert vor Christus, sagen wir mal, inkulturiert wird. Mit allem, was man darüber weiß. Thomas Mann hat sich eine ganze Bibliothek angeschafft und Mappen angelegt mit Exzerpten. Das würde ich schon sagen, das ist ein historischer Roman. Er hat sich natürlich nicht erinnert.“
Das Buch passt also nicht in Ihre Theorie?
Aleida Assmann: „Das muss man glaube ich gar nicht so trennen voneinander, denn Thomas Mann hat damit die Ägyptenfaszination wieder geweckt und weiter entwickelt. Und das ist ja auch unser Thema: Wie wird Ägypten erinnert und wie wird es auch in der historischen Forschung um die Jahrhundertwende rekonstruiert. Und was Thomas Mann hinzuerfunden hat, ist ja eine schöpferische, eine kulturelle Leistung. Das ist ja mehr als die Rekonstruktion von Ereignissen und in dem Sinne gehört natürlich auch die Erinnerungsgeschichte von Ägypten mit dazu.“
Erinnern schließt Vergessen mit ein
Er hebt die Geschichte aus dem Vergessen heraus. Aber Vergessen ist grundsätzlich auch wieder notwendig. Wie geht das bei Ihnen zusammen: man muss vergessen können, aber manches darf man nicht vergessen?
Aleida Assmann: „Wenn wir über Gedächtnis reden, müssen wir immer beides mit anschauen, das Erinnern und das Vergessen. Das ist eine Dialektik. Um etwas zu erinnern, müssen wir schon immer etwas vergessen haben müssen. Je stärker wir auf etwas fokussieren, desto mehr vergessen wir anderes. Nehmen wir die deutsche 68er-Generation, die sich die Holocaust-Erinnerung nahe geholt hat, die vergisst den ersten Weltkrieg, die vergisst ganz viel deutsche Geschichte, weil sie sich auf etwas anderes fixiert. Und das dunkelt immer etwas anderes ab. Jede Erinnerung, die in den Mittelpunkt gerückt wird, entspricht einem bewussten Auswahlprozess. Es gibt, was wir Cover-Erinnerungen nennen, die decken etwas zu. Um etwas nicht zu erinnern, legen wir etwas anderes drüber. Beispiel: Der armenische Genozid durch die Türkei begann am 24. April 1915. Am 25., ein Tag später, fand die Schlacht von Gallipoli statt, wo die Türken gegen die Mächte der Entente gewannen. Bei der Kommemoration hundert Jahre später 2015 haben die Türken keinerlei Vorkehrungen zur Erinnerung an den Genozid getroffen, sondern nur Vorkehrungen zur Verhinderung von Erinnerung. Was haben sie gemacht: sie haben den Sieg von Gallipoli einen Tag vorgezogen, damit sie an diesem Tag dieses Ereignis feiern konnten. Das war für mich eines der krassesten Beispiele, wie man durch eine Erinnerung Vergessen konstituiert.“
Welche Rolle spielen die Medien?
Aleida Assmann: „Die Medien sind ganz zentral. In einer Demokratie gibt es ja immer mehrere Medien. In einer Diktatur haben wir ausgesuchte Medien, die eine ziemlich einheitliche Form der Erinnerungskultur pflegen und Alternativen ausschließen. In der Demokratie gibt es keinen verbindlichen Zwang, sich an bestimmte Dinge zu erinnern. Wir werden nicht herangezogen, müssen nicht zum Fahnenappell antreten. Da ist Erinnerung individuell auf Belieben gestellt, obwohl ein Erinnerungsrahmen da ist. Aber die Medien sind dazu aufgefordert, etwa an Gedenktagen das Ereignis ins Gedächtnis zu rufen. Ich nenne das ein Zeitfenster. Ein Zeitfenster der Erneuerung dieser Erinnerung. Da hat man aber viel Spielraum, das neu zu deuten. Man denke an die Reformation. Da kam dann Luther raus, aber auch sein Antijudaismus. Da wurde sehr viel aufgearbeitet an dieser heroischen Gestalt, sie wurde umgebaut von dem Nationalheros des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Man hat sich an ihm abgearbeitet. Das ist auch ein Teil der Medien, das sind die Bücher, die erscheinen und natürlich auch die kritischen Feuilletons, die das wieder aufgreifen. Also es geht eher um Diskussion, Disput und neue Aneignung und Neudeutung.“
Sie haben den Balzan Preis gewonnen. Die Hälfte des Preisgeldes, so die Satzung, soll wieder in Forschung investiert werden. Haben Sie schon ein Projekt?
Aleida Assmann: „Die spezifische Fragestellung ist, was passiert in der Gegenwart und der Zukunft mit der Erinnerung unter den Bedingungen einer radikalen Transformation unserer Gesellschaft? Auf der einen Seite verändert sich die Erinnerungskultur und verändern sich die Möglichkeiten des Erinnerns durch die neuen Medien. Es gibt andere Formen der Partizipation, man kann eine andere Form von Denkmälern entwickeln, die zum Beispiel digital sind usw. Dazu kommt das Ableben von Zeitzeugen. Der andere Punkt ist die Migrationswelle. Die Zusammensetzung der Städte ändert sich radikal. Es kommen Menschen in die Städte mit ganz anderen Erinnerungen. Wie werden diese Bürger miteinander auskommen? Was entwickelt sich in diesem Zusammenleben, wenn das Fernste in nächste Nähe rückt? Das können wir am besten auf der lokalen Ebene beobachten, nicht auf dem nationalen Gedächtnis, sondern wir wollen mehr Aufmerksamkeit auf die lokale Ebene und die Erinnerung von unten legen, denn da passieren für unsere Begriffe auch die Neuerungen.“
Die Rückgewinnung von Geschichte
Zugehen auf Leute, die erzählen?
Aleida Assmann: „Ja, Leute die erzählen, aber auch die, die Initiativen ergreifen. In jeder Stadt gibt es Gruppen, die etwas in die Hand nehmen. Die sagen, wir wollen uns dieser Geschichte annehmen, das ist hier passiert. Die haben einen direkten Bezug zu den Ereignissen, weil sie ein Denkmal haben oder ein Gebäude oder ein Ereignis hat dort stattgefunden. Und diese lokale Arbeit an der Geschichte ist etwas, was sehr stark von den Individuen, von der Zivilgesellschaft ausgeht. Und das könnte man eben ausdehnen auf die Migrationsgeschichten, die dort auch ankommen.“
Wie weit wollen Sie das fassen?
Aleida Assmann: „Wir wollen uns auf europäische Städte in West- wie Osteuropa fokussieren. Gerade osteuropäische Städte sind geschichtete Städte. Da gibt es viele historische Spuren, die durch Gewaltgeschichte geprägt sind. Das Abreißen von Gebäuden. Systemwechsel. Tabula-rasa-Situationen und der Versuch, Geschichte wieder zurück zu gewinnen. Also da gibt es immer schon einen Streit um die Geschichte etwa in der Architektur. Und vieles in der Stadt ist nicht mehr Teil der eigenen Kultur, weil die, die das damals gebaut haben, gar nicht mehr da sind. Dadurch kommt eine Komplexität rein, die uns auch interessiert. Was passiert mit den Denkmälern in diesen Städten und wie eignet man sich die gebaute Umgebung an? In Luzern zum Beispiel gibt es einen Brunnen, das Wahrzeichen einer wichtigen historischen Versammlung, des zionistischen Weltkongresses 1935, der zuvor meistens in Basel stattgefunden hatte. Aber Basel lag zu nahe an Deutschland, also wich man 35 nach Luzern aus. Eigentlich könnte Luzern als ein weltoffener Ort stolz sein auf diese Erinnerung und sie auch markieren. Aber man macht das nicht – weil man es nicht weiß oder weil man es nicht wissen will? So etwas wollen wir untersuchen.
Das Gespräch wurde am 17.November in Bern am Rande der Verleihung der Balzan Preise 2017 geführt.
Infos zum Balzan Preis: balzan.org/de
Siehe auch auf Cluverius: Kulturelles Gedächtnis
Aleida Assmann, 1947 in Bethel/Bielefeld geboren, studierte Anglistik und Ägyptologie und wurde 1992 an der Universität Heidelberg habilitiert. Von 1993 bis zur ihrer Emeritierung 2014 lehrte sie Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gastprofessuren in mehren Universitäten der USA und Europa, Ehrendoktorin der Universität Oslo
Jan Assmann, 1938 in Langelsheim/Goslar geboren und in Lübeck aufgewachsen, studierte Ägyptologie und Klassische Archäologie und wurde 1971 an der Universität Heidelberg habilitiert, wo er bis zu seiner Emeritierung Ägyptologie lehrte. Gastprofessuren in Paris, Yale und Jerusalem. Seit 2005 Honorarprofessur für allgemeine Kulturwissenschaften und Religionstheorie an der Universität Konstanz, Ehrendoktor der Universitäten Münster, Yale und der Hebrew University Jerusalem.
Ausgewählte bibliographische Hinweise
– Bücher von Aleida Assmann:
Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.H.Beck, München 1999 (Broschur 2011; 19,90 Euro)
Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C.H.Beck, München 2014; 19,95 Euro
Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. C.H.Beck, München 2016; 16,95 Euro
Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. C.H. Beck, München 1992 (Broschur 2013; 12,95 Euro)
Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Hanser, München 1998 (Taschenbuch bei Fischer 2000; 14,95 Euro)
Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. C.H.Beck, München 2006; 22,90 Euro
Exodus. Die Revolution der Alten Welt. C.H.Beck, München 2015; 29,95 Euro