DAS SCHICKSAL DER TRÜMMER


Amatrice vor und nach dem Erdbeben. Fotografien zwischen Erinnerung und Projekt. Eine Online-Ausstellung der Bibliotheca Hertziana

© Bibliotheca Hertziana

Amatrice, November 2018. Ansicht mit der Torre Civica und dem Glockenturm von Sant’Emidio, Foto: Enrico Fontolan

Rom – Im August 2016 beschädigte ein Erdbeben weite Teile der mittelalterlichen Kleinstadt Amatrice im zentralen Apennin (Provinz Rieti). Weitere Erdstöße der folgenden Monate zerstörten sie ganz. 299 Menschen starben, ein Wiederaufbau nach der Formel „wo und wie es war“ blieb illusorisch. Trotzig ragt die Torre Civica (13. Jahrhundert) aus der heute von Trümmern geräumten Ruinenlandschaft. Die Online-Ausstellung Amatrice im Focus der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) bereitet Fotomaterial aus verschiedenen Epochen und Quellen auf: historische Fotografien von Stadt- und Gebäudeansichten, von Architekturdetails sowie von einzelnen Kunstwerken werden mit Aufnahmen ergänzt, die unmittelbar nach den Beben bzw. in den Jahren darauf entstanden. Sie wurden von der Hertziana erworben soweit sie nicht aus eigenen Fotokampagnen stammten. Ziel der Ausstellung ist es, „virtuell einen Eindruck der einstigen kulturellen Einheit des Territoriums“ zu vermitteln und „zur Reflexion über Formen, Art und Zielrichtung einer Rekonstruktion“ beizutragen.

Dazu gehören auch auf Aufnahmen des deutschen Fotografen Max Hutzel (1911-1988), der sich auf Themen aus Kunst- und Architektur spezialisiert hatte. Er dokumentierte gezielt abseits gelegenen Dörfer und kleinere Städten Mittelitaliens, wo für ihn „die Wiege der Kunst“ lag. Foto Arte Minore nannte er sein Projekt über dieses „kleinere Kulturgut“. Leider müsse man, so schrieb er „einen Großteil dieser Kunstwerke bereits als verloren betrachten, und jeden Tag geht es mehr in Richtung Zerstörung.“

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Amatrice, San Francesco. Fresko mit der Darstellung von Christus am Ölberg, Detail, Foto: Max Hutzel, Foto Arte Minore, 1960. Digital image courtesy of the Getty’s Open Content Program

Amatrice, das im vergangenen Jahrhundert  rund drei Viertel seiner Einwohner durch Abwanderung verloren hat und in dem kurz vor dem Erbeben nur noch rund 2500 Menschen lebten, war eine dieser „fast von Gott und den Menschen vergessen“ Ortschaften Hutzels. Die auf einer Hochebene gelegene Stadt am alten Handelsweg zwischen Latium, Abruzzen und den Marken bewahrte eine reichen Geschichte mit mittelalterlichen Kirchen und Klöstern sowie auch einer bedeutenden lokalen Malschule um Meister wie Cola d’Amatrice (Nicola Filotesio) zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert.

Überlebende Bauwerke, Reste der Türme und Kirchen

Der Online-Ausstellung gelingt es, einerseits diese Geschichte in vielen Details wissenschaftlich zu verfolgen und dabei auch für den interessierten Nicht-Kunsthistoriker lebendig zu machen. Andererseits dokumentiert sie die Zerstörung und reflektiert über „das Schicksal der Trümmer“ ohne „im pathetischen Moment“ zu verharren. Die Fotos können bei der Erkennung wieder verwertbarer Elemente für Rekonstruktionen helfen. Die „verletzte Stadt“, heißt es im Text zur Ausstellung, sei nicht vollkommen verschwunden: „Trümmer und Bauteile, wenn auch zu Boden gestürzt und zerbrochen, bewahren physisch ihren Fortbestand.“

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Gerettete und katalogisierte Fragmente des Portals von San Francesco (Juni 2017), die in die Depots der Soprintendenza überführt werden sollen. Foto: Francesco Gangemi

Zur Ausstellung gehört eine kurze Geschichte der wichtigsten Erdbeben in Italien des 20. Jahrhunderts. Als Vorbild wird etwa die Foto-Dokumentation des Ortszentrums von Venzone nach dem verheerenden Beben im Friaul 1976 genannt. Die Zukunft für Amatrice bleibt, so das Fazit der Forschungsgruppe der Hertziana, notwendig offen. Der Ort werde gleichsam neu gegründet werden. Und dann müsse sich entscheiden, ob und wie die „überlebenden Bauwerke, die Reste der Türme und Kirchen“ mit dieser neuen Stadt noch korrespondieren können.

Dieses Projekt wurde nach Angaben der Hertziana in unterschiedlichen institutionellen Kontexten erarbeitet. Ausgangspunkt war ein Workshop zum Thema an der Fotothek des Instituts.  Aus diesem erwuchs die Zusammenarbeit zwischen Francesco Gangemi, Rossana Torlontano und Valentina Valerio, die als Experten für Konservierung in Erdbebengebieten ihre jeweiligen Erfahrungen in das Projekt einbringen konnten. Die Idee diese Forschungsergebnisse in Form einer digitalen Ausstellung zu publizieren, entstand im Kontext des International Observatory for Cultural Heritage an der Italian Academy for Advanced Studies in America an der Columbia University, New York.

Amatrice im Focus. Fotografie eines seismischen Gebiets zwischen Erinnerung und Projekt. Eine Online-Ausstellung (deutsch/englisch/italienisch) von Francesco Gangemi, Rossana Torlontano und Valentina Valerio in Zusammenarbeit mit der Fotothek. Realisierung Web: Tatjana Bartsch. Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte), Rom 2020