EIN AUF STRASSEN WANDERNDER SPIEGEL


100 Jahre Leonardo Sciascia (3): Ein unangemeldeter Besuch beim Schriftsteller in der Contrada Noce – Fragmente eines Gesprächs anderthalb Jahre vor seinem Tod

© Fondazione Leonardo Sciascia (Facebook)

Contrada Noce bei Racalmuto

Mailand – Es war ein warmer Tag Ende April 1988. Allein unterwegs mit dem Auto in Sizilien, an diesem Tag von Gela nach Agrigent. Irgendwann kam die Idee, in Racalmuto, im Geburtsort von Leonardo Sciascia, Halt zu machen. Wir hatten uns zuvor ein paar Mal gesprochen, fünf Jahre zuvor etwa in Rom am Ende seiner Zeit als Abgeordneter für den Partito Radicale, oder später bei einer Veranstaltung und zu einem Essen in Taormina zusammen mit Gesualdo Bufalino. Ob Sciascia überhaupt in seinem Landhaus war? Eine Telefonnummer gab es nicht. Freundlich gaben Bewohner Auskunft, der Weg durch die Contrada Noce zum hinter Mandelbäumen versteckten Haus war trotzdem nicht leicht zu finden. Es war bereits später Nachmittag. Ein Überfall, entschuldigen Sie bitte. – „Haben Sie bis morgen Zeit? Dann kommen Sie morgen Nachmittag wieder.“ – Auch wenn Feiertag ist? – „Auch wenn Feiertag ist.“

Am nächsten Nachmittag, in seinem Arbeitszimmer, halbdunkel, die Fensterläden waren angelehnt, Sciascia sprach langsam, mit vielen Pausen. Im Gespräch mit ihm lernte man, nicht bei der ersten Pause sofort nachzufragen. Es lohnte sich zu warten. Von draußen hörte man das andauernde Zirpen der Zikaden, dann und wann vom Geräusch eines Sportflugzeugs überdeckt. Über sich sprach Sciascia wenig, er erwähnte nur, dass er gelegentlich Probleme beim Sehen habe, sich gleichsam Flecken auf dem Abbild der Augen bildeten.

Metapher der Welt

Einige Versatzstücke aus der Abschrift des Gesprächs:

„Zweifellos rede ich immer von Sizilien, schreibe immer über Sizilien, aber das gehört zur Tradition der sizilianischen Schriftsteller, die immer Sizilien als Thema gehabt haben. Von Verga bis heute haben alle sizilianischen Schriftsteller immer über Sizilien geschrieben.“

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„Der Provinzialismus ist ein geografischer, kein geistiger oder kultureller Umstand. Sizilien ist geografisch eine Provinz, sogar die letzte Italiens und dazu noch eine Insel. Aber die sizilianische Kultur war nie provinziell, sie hat schon immer Paris als Vergleichsgröße gehabt, als Ort von dem sie etwas Neues, etwas Anderes beziehen könnte, um die Dinge auf eine bestimmet Art zu sehen. (…) Es gibt sogar sizilianische Schriftsteller, die auf Französisch geschrieben haben. Palmieri di Micciché, der schöne Erinnerungsbücher geschrieben hat, war ein Bekannter von Stendhal. Es gab viele, die auf Französisch schrieben, aus politischen Gründen oder aus freien Stücken. (…) Die große Triade der sizilianischen Literatur, die drei großen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Verga, De Roberto und Capuana haben vom französischen Verismus und besonders von Zolà eine Art Anschub bekommen, um die sizilianische Wirklichkeit zu prüfen, zu beobachten.“

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„Metapher der Welt: Sizilien mit seinen Passionen, mit seinen verknoteten, in einem gewissen Sinne schrecklichen Wirklichkeiten, als wäre das eine Metapher von dem, was auf der Welt geschieht.“

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„Ich habe diesen Begriff sicilitudine (Sizilianertum) benutzt, der sich von dem französischen Begriff negritude ableitet und auch nicht von mir, sondern von einem jungen sizilianischen Lyriker kreiert wurde, aber durch mich dann Verbreitung gefunden hat. Ich habe ihn benutzt, um ein Gefühl vom Sizilianer-Sein, das keine Ideologie ist, auszudrücken. Der sicilianismo (Sizilianismus) ist eine Ideologie, er beinhaltet die Idee, dass Sizilien eine Nation sei und für sich bleiben könne, die Idee von der sizilianischen Unabhängigkeit, einer politischen und administrative Unabhängigkeit, die mir nicht gefällt. Ich unterscheide also zwischen sicilianismo als Ideologie, die mir nicht gefällt, und der sicilitudine als ein Gefühl, als eine Kultur. (…) Ich glaube, dass Sizilien durch und durch italienisch ist.“

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Der Irrsinn der Mafia

„Die Mafia ist eine Verbrecherorganisation mit inzwischen internationalen Verzweigungen. Das ist kein sizilianisches Phänomen mehr. In der ländlichen Mafia gab es einst Typen, die eindeutig zur sizilianischen Geschichte gehörten. Heute ist das nicht mehr so eindeutig, heute gib es eine Multinationale des Verbrechens, wie in Hamburg oder New York, wie in Thailand oder Japan. Wie der Terrorismus kann sie Ableger überall haben. (…) Die traditionelle Mafia existierte, solange es die bäuerliche, die ländliche Welt gab. Seitdem der Boden keinen Gewinn mehr abwirft, hat das Interesse der Mafia an der Landwirtschaft, am Boden, an der bäuerlichen Welt aufgehört. Sie ist etwas anderes geworden. Die wichtigste Aktivität der Mafia ist die Droge, und die Droge ist nicht allein ein sizilianisches Phänomen.“

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„Was sich meiner Meinung nach in der Mafia verändert hat: Sie bringen sich gegenseitig um und das kann man auch positiv werten. Diese Mafia hat den Irrsinn begangen und sich gewaltsam mit den Offizieren der Carabinieri, mit Richtern und Staatsanwälten angelegt. Dafür haben sie teuer bezahlen müssen. Zurzeit spielt sich ein innerer Machtkampf ab und sie töten sich gegenseitig. Das ist ein Zeichen, dass die Mafia in Schwierigkeiten steckt.“

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Literatur und Pessimismus

„Die italienische Literatur des letzten Jahrhunderts ist weitgehend sizilianisch geprägt. Wenn man die sizilianischen Autoren abzieht, bleibt nicht mehr viel. Vielleicht weil Sizilien mehr Probleme hat als andere Regionen, vielleicht weil das Leben auf Sizilien schwieriger ist als anderswo. Denn der Schriftsteller setzt sich immer mit den Problemen der Gesellschaft, des Lebens auseinander. Der Schriftsteller lässt sich von diesem Zusammenstoß mit der Wirklichkeit fordern. Und dieser Zusammenstoß ist in Sizilien mächtiger als anderswo.“

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„Dass diese Wirklichkeit bekämpft werden muss, das führt dazu, dass die Intelligenz, dass das Verstehen sich abhärtet. Der Pessimismus ist immer relativ, man ist pessimistisch in der Art, wie die Wirklichkeit pessima (miserabel) ist, man ist es nicht von Natur aus oder weil man es so will. Man ist pessimistisch, weil es seit Jahrhunderten eine Realität gibt, die sich kaum verändert. Und diese historische Erfahrung wird existenziell. Die Geschichte hat zu viele Enttäuschungen mit sich gebracht, deshalb gibt ein Sizilianer sich selten Illusionen hin und wird also als Pessimist angesehen. Aber für einen Schriftsteller gilt das nicht unbedingt, denn dass er überhaupt schreibt, das ist Optimismus. Eine wahrer Pessimist sollte nicht schreiben.“

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Die Rolle der Übersetzung

„Manchmal ist es schwieriger, sich mit Nachbarn zu verstehen als mit entfernt Lebenden. Ich glaube, dass man die sizilianische Literatur, vor allem die erzählenden Werke, leichter in Frankreich oder England verständlich machen kann als im Piemont. Brancati zum Beispiel ist ein Schriftsteller, den ein Norditaliener nur schwer verstehen kann. Man müsste ihn übersetzen. Wohingegen der Franzose oder der Engländer ihn bei guter Übersetzung leichter versteht als ein Piemontese, der den Text im Original liest.“

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„Wenn die Beteiligung Italiens an der Frankfurter Buchmesse zu einer kulturellen Aneignung führt, kann das wichtig sein. Aber wenn das eher ein mondän wirtschaftlicher Vorgang ist, dann wird man in ein paar Jahren nicht mehr von Italien reden, von dem man heute so viel spricht. In der Tat ist die italienische Literatur zurzeit weltweit in Mode. Aber Moden, wie wir wissen, vergehen. Die Durchdringung müsste länger, tiefer gehen. Sicher bleibt etwas, auch wenn die Mode vorüber ist, und könnte helfen, die italienische Literatur, der es im Augenblick sehr gut geht, weiter bekannt zu machen.“

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„Die neue Generation, Tabucchi, Del Giudice, die kenne ich weniger, auch weil ich in letzter Zeit weniger zum Lesen komme und dann lieber meine Altersgenossen lese. Mir gefällt Bufalino sehr, ich liebe Consolo. Mir gefällt auch das Buch von Rugarli, ‚La troga’, das auf fast surreale Weise gleichzeitig Fantasie ist und gleichzeitig Zusammenfassung der italienischen Wirklichkeit des Terrorismus, der P2, der Mafia ist, der Wirklichkeit  in Italien der Jahre von 68 bis heute. Das sind Autoren der Generation, zu der ich gehöre. Wenn also eines ihrer Bücher erscheint, lese ich es sofort, wohingegen ich die Bücher der Jungen mit großer Verspätung lese, auch wenn ich sagen muss, ich kenne Tabucchi und er interessiert mich sehr.“

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Die Zukunft der Menschheit

„Das Fernsehen ist mir zuwider, das sehe ich nie. Und es gelingt mir nicht, mich dem Computer anzupassen. Ich schreibe noch auf dieser alten kleinen Maschine und ich fürchte, diese neuen Dinge könnten die Literatur zu einer toten Sprache machen. Wer wird in 50 Jahren noch Goethe oder eine Tragödie von Shakespeare lesen können? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass die Literatur überlebt, weil ich glaube, dass der Mensch mit der Literatur sein Bestes gegeben hat. Eine Welt ohne Literatur wäre für mich völlig inhuman, vollkommen anders – und ich will sie mir nicht ein mal vorstellen. Abgesehen davon, ich bin 67 Jahre alt, glaube nicht, dass ich lange leben werde, und wenn ich einmal nicht mehr sein werde, geht mich das Problem auch nichts mehr an, was mir eine gewissen Erleichterung gibt. Heute glaube ich an sie, und die Lektüre eines Buches schenkt mir ein großes Vergnügen. Obgleich ich wenig lesen kann, lehne ich Bilder ab, ich lasse nur die der Malerei gelten, und versuche so zu leben wie es mir gefällt. Aber ich fürchte für die Zukunft der Menschheit.“

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„Hier wird alles überwunden. Das italienische Volk – das mag ein negativer Umstand aber auch ein positiver sein – lebt gedankenlos, hat wenig Erinnerung, hat keine historisches Gedächtnis. So wurde der Fall Moro überwunden, wie man auch, so glaubte man, den Terrorismus überwunden hatte. Und an einem bestimmten Punkt wird man glauben, auch den Fall Mafia überwunden zu haben. Diese Vorgänge spielen weiterhin ihre geheime Rolle in der Geschichte von Italien, nur dass die Italiener so tun, sie zu vergessen – oder sie wirklich vergessen haben.“

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„Diesen Druck habe ich in einer Ausstellung in Rom gefunden, das ist die Arbeit eines tschechoslowakischen Künstlers. Ich habe sie gekauft, weil sie mich an einen Satz von Stendhal erinnert, dass der Roman ein auf Straßen wandernder Spiegel sei, und gerade deshalb habe ich sie da aufgehängt – che dice che il romanzo è uno specchio che cammina nella strada, e l’ho fatta mettere lì proprio apposta.“

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Das Gespräch im Hause Sciascia wurde am 25. April 1988 in Racalmuto (Contrada Noce) geführt.

Die Fondazione Leonardo Sciascia mit einer großen Bibliothek hat ihren Sitz in Racalmuto (AG), Viale della Vittoria. In der Casa delle Zie, dem Haus, in dem Sciascia aufwuchs, ist ein kleines Museum mit Erinnerungsstücken an den Autor eingerichtet worden (Via Leonardo Sciascia 39). In  Mailand wurde 1993 die Vereinigung „Amici di Leonardo Sciascia“ gegründet

Auf Cluverius siehe auch 100 Jahre Leonardo Sciascia (1): „Die müde Demokratie“ Sowie Leonardo Sciascia (2): „Das mir teuerste von allem, was ich geschrieben habe