EIN GEHEIMNISVOLLER „RE LEAR“


Musiker und Wissenschaftler fordern die Öffnung der Archive von Verdi und Puccini, während der Abbado-Nachlass nach Berlin emigriert

copyright Archivio Ricordi

Giuseppe Verdi im Garten seines Landhauses von Sant’Agata mit Verwandten und Freunden (u.a. Teresina Stolz, links stehend, und Giulio Ricordi, stehend zweiter von rechts)

Mailand – Gebt Zugang zu den privaten Archiven von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini! Das fordern rund 50 Musiker und Intellektuelle aus Italien und dem Ausland in einem offenen Brief an Staatspräsidenten Sergio Mattarella und Kulturminister Dario Franceschini. In dem Brief, den das Mailänder Fachmagazin Classic Voice in seiner jüngsten Ausgabe veröffentlicht hat, wird der unhaltbare Zustand beklagt, dass wichtige Dokumente der Musikgeschichte nicht einmal der wissenschaftlichen Forschung zugänglich sind. Die Papiere befinden sich zwar in Privatbesitz, aber, so der Aufruf, bestehe „ein öffentliches Interesse“ an ihnen. Zu den Unterzeichnern gehören die Dirigenten Antonio Pappano, Daniel Barenboim oder Riccardo Chailly, der Pianist Maurizio Pollini, der Sänger Placido Domingo aber auch Intellektuelle wie der Schriftsteller Claudio Magris oder der Philosoph Massimo Cacciari sowie Direktoren der Scala, des Royal Opera House, der Staatsoper Berlin oder der Staatskapelle Dresden.

Der Nachlass von Giacomo Puccini (1858-1924) in seiner Villa in Torre del Lago bei Lucca scheint in einem bedauernswerten Zustand zu sein, offensichtlich fehlen sogar wichtige Dokumente, die wohl an Liebhaber verkauft worden sind. Der Zugang zu den Papieren von Giuseppe Verdi (1813-1901), die in der Villa Sant’Agata bei Piacenza in einem großen Kofferaufbewahrt werden, ist seit Jahren durch einen Streit zwischen den Erben blockiert. Es handelt sich um über 5000 Dokumente – Briefe, Aufzeichnungen, handschriftliche Partituren. Musikwissenschaftler vermuten, dass man unter ihnen Material zur geheimnisvollen, nie veröffentlichten Oper „Re Lear“ findet, von der es auch im Ricordi-Archiv (Mailand) keine Spuren gibt.

Der Abbado-Nachlass in der Staatsbibliothek Berlin

Mit Bedauern, aber angesichts dieser Zustände mit Verständnis, kommentierten italienische Medien die Entscheidung der Claudio-Abbado-Stiftung (Bologna), den Nachlass des 2014 verstorbenen Dirigenten der Berliner Staatsbibliothek als Schenkung zu übergeben. Die Staatsbibliothek hatte sich zusammen mit der Stiftung der Berliner Philharmoniker verpflichtet, das Archiv zu erschließen und öffentlich zu machen. Dazu gehören etwa von Abbado kommentierte Partituren sowie Werkstudien.

Eine entsprechende Vereinbarung wurde Anfang des Monats unterzeichnet. Berlin sei die Stadt gewesen, wo Abbado die größte künstlerische Freiheit gehabt habe und wo er den Philharmonikern eine neue Identität habe geben können, begründete der Regisseur Daniele Abbado, der älteste Sohn des Komponisten, die Entscheidung in der Tageszeitung la Repubblica. In Italien, beklagte der Corriere della Sera, habe sich niemand um den Abbado-Nachlass gekümmert. Auch die Stadt Mailand nicht, wo der Dirigent 1933 geboren wurde, und wo er von 1968 bis 1986 die musikalische Leitung des Teatro alla Scala innehatte. Der Verlust für Mailand, so kann man vermuten, ist aber für die musikalische Öffentlichkeit ein Gewinn.