Daniel Barenboim und Claus Guth ist mit der Inszenierung des Lohengrin an der Mailänder Scala ein Kunststück gelungen
Mailand (Dezember 2012) – Wenn die Scala mit einer Galapremiere eine neue Saison eröffnet, dann kündigt sich jedes mal ein großes, buntes Schauspiel an. Aber nicht immer rechtfertigt das Geschehen auf der Bühne das Spektakel drum herum. Die Diskussionen um das Theater, der Auftritt der Reichen, Mächtigen und manchmal auch Schönen am Sankt Ambrosius Tag hält eine Stadt in Aufregung, erzeugt ein gewaltiges Rauschen im Medienwald und macht Mailand zum Spiegel der Stimmungen im Land. Das war in diesem Jahr nicht anders. Doch konnte die Bühne diesmal ein ganz starkes Zeichen setzen. Der Lohengrin, den Daniel Barenboim in großen Spannungsbögen dirigierte, überzeugte mit seiner vibrierenden Kraft. Aber es war vor allem die Regie von Claus Guth, die dem Abend entscheidende Noten gab. Unter seiner Anleitung zeigte Jonas Kaufmann einen zerbrechlichen, zweifelnden Lohengrin, der die Heldenrolle, die ihm das Textbuch anbietet, gleichsam unterlief.
Einem Kaspar Hauser gleich
Nicht in heller Rüstung auf einem vom Schwan gezogenen Nachen kommt Lohengrin unter die Edlen und das Volk von Brabant, um im Kampf die Ehre der Herzogstochter Elsa zu retten und als ihr Gatte die Macht im Staat zu übernehmen. Sondern wie ein Findling, barfuss, in einfachen Kleidern krümmt sich der Gralsritter am Anfang auf der Bühne. Einem Kaspar Hauser gleich scheint ihm das Tun der Menschen fremd, und er entzieht sich ihren Versuchen ihn zu domestizieren (das heißt, ihn zum Heerführer zu machen). Claus Guth, der die Handlung vom Mittelalter in das 19. Jahrhundert, etwa zur Entstehungszeit der Oper (Uraufführung 1850 im Großherzoglichen Hoftheater Weimar) verlegte, lässt zwei Welten auf einander prallen. Auf der einen Seite die der rationalen Wirklichkeit eines Staates und seines Militärapparats, in der es um hehre Ziele (die Einheit des Reiches) und machtlüsterne Triebe (um die Gewinnung von Macht) geht. Auf der anderen Seite die des Traums in der Liebesbeziehung zwischen Lohengrin und Elsa, die an der Wirklichkeit ebenso scheitert wie an ihren inneren Widersprüchen (das Frageverbot). Dem entspricht die Paarbeziehung Ortrud/Friedrich und Elsa/Lohengrin.
Dabei erweisen sich in beiden Paaren die Frauen als die eigentlich stärkeren. Besonders bei Elsas Rolle, die sich facettenreich zwischen träumerisch wahnhaft und trotzig realistisch spannt, geht der Regisseur über das, was von Wagner bereits angelegt wurde, hinaus. Das Bühnenbild von Christian Schmid spiegelt das Geschehen mit wild wuchernde Naturelementen, die in den geordneten architektonischen Raum eines Stadt- oder Kasernenhofes eindringen. Im dritten Akt finden Elsa und Lohengrin nach der Hochzeit nicht im Schlafzimmer zusammen, sondern an und in einem See, durch den sie glücklich plantschen. Und in dem Elsa schließlich am Ende der Tragöde ihren Tod sucht.
Jonas Kaufmann in einer unversöhnlichen Heldengeschichte
Während der warme, volle Klang des Scala-Orchesters treu die Partitur Wagners einer unversöhnlichen Heldengeschichte umsetzt, versucht die Inszenierung die Brüche des Helden selbst zum Thema zu machen. Dass das gelingt, ist vor allem Jonas Kaufmann zu verdanken, der diese Doppelrolle annimmt und den Lohengrin mit einer unglaublichen Weichheit, verletzlichen Zärtlichkeit singt und als einen Sucher nach sich selbst spielt. Bei der Arie „In fernem Land“ ging ein Zittern durchs Publikum. Das ganze Ensemble blieb kaum hinter dem Münchener Tenor zurück. Darunter Evelyn Herlitzius als hinterhältige Ortrud, die auch ihre weiblichen Reize einsetzt, um den zögerlichen Friedrich (Tomas Tomasson) für ihre Intrige gewinnen. Oder René Pape als König, eine politische Vaterfigur, die gekommen war, das Reich zu einigen und am Ende wie eine Statue ohnmächtig dem tragischen Verlauf um sich herum zusehen muss.
Zum Gelingen hatte aber Annette Dasch als Notbesetzung der Elsa keinen geringen Anteil. Sie wurde am Abend vor der Premiere eingeflogen als zunächst Anja Harteros und dann auch noch die Zweitbesetzung Ann Petersen wegen einer Grippe absagen mussten. Die 36jährige Berlinerin kann die Rolle in- und auswendig, hatte die Elsa zuletzt erfolgreich in Bayreuth gesungen, aber wie sie sich nach nur einem Tag Proben in die komplexe Regie einfand, war schon großartig.
Die „italienischste“ Oper von Wagner
Der Lohengrin, die wegen seines melodischen Reichtums zu recht auch als die „italienischste“ Oper Wagners bezeichnet wird, gab in dieser Interpretation eine durchaus passende Begleitmusik zur Stimmung im Land. Denn vieles bleibt schwankend in dieser Zeit, prekär sind die Arbeitsverhältnisse vieler Menschen in Italien. Eine Handvoll von ihnen versuchte vor der Scala im ersten Schnee mit lautem Protest auf sich aufmerksam zu machen, während ein Blitzlichtgewitter den Aufmarsch der Abendkleider und Smokings ausleuchtete. Protest wegen angeblich unzulänglicher Arbeitsbedingungen an der Scala gab es von einer kleinen Gewerkschaftsgruppe, die am Ende der Vorstellung Flugblätter vom oberen Logenring ins Publikum flattern ließ.
Prekär ist auch die Lage der Monti-Regierung, nachdem ihr die Berlusconi-Partei einen Tag für der Scala-Premiere das Vertrauen entzogen hatte. Der alternde Medienmogul inszeniert seinen letzten Operettencoup und stellt wieder einmal die Wirklichkeit auf den Kopf, wenn er dem Ministerpräsidenten vorwirft, das Land mit einer „germanophilen“ Politik in die Sackgasse zu führen. Die kommende Wahl kann Berlusconi nicht gewinnen, Italien aber schaden. Egal, er hofft, so sich selbst und seine Unternehmen vorm Untergang zu retten. Mario Monti, ein treuer Besucher der Scala seit seinen Jahren als Präsident der Nobeluniversität Bocconi, war dennoch mit vier Ministern zum Lohengrin angereist. Ihm zu Ehren ließ Daniel Barenboim Mitten im Schlussapplaus die italienische Nationalhymne intonieren. Und Jonas Kaufmann sang sie mit. Beim Galadiner nach der Vorstellung hörte man Monti dann mit dem Staatspräsidenten in Rom über einen Zeitplan der Regierungskrise telefonieren.
„Haben die Deutschen überhaupt einen Kulturminister?“
Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso wollte kommen, ein Schneesturm in Brüssel verhinderte es. Rechtzeitung zum Präludium der Oper, das Nietzsche „blau, von opiatischer, narkotischer Wirkung“ genannt hatte, fand dagegen die französische Kulturministerin Aurélie Filippetti den Weg ins Teatro alla Scala. Und die Deutschen? Haben die überhaupt einen Kulturminister, so hörte man fragen? Jedenfalls fand der Triumph Wagners auf der Hausbühne von Verdi ohne (sichtbare) deutsche Beteiligung statt. Die italienische Kultur und die italienische Öffentlichkeit interessieren sich zwar ausgiebig für deutsche Vergangenheit von Goethe über Wagner bis Hitler (der angeblich beim Lohengrin Tränen der Rührung vergossen haben soll). Die Gegenwart nördlich der Alpen wird aber nur in kleinsten Ausschnitten wahrgenommen.
Dabei geht es im Lohengrin nicht nur um eine problematische Paarbeziehung vor mythologischem Hintergrund. Die Oper trägt deutlich patriotische Züge im Vorfeld der Einigungsbewegung in Deutschland. (König: „Für deutsches Land das deutsche Schwert! So sei des Reiches Kraft bewährt!“) Die politischen Untertöne, die besonders in der Zeit der Nationalsozialismus ausgebeutet und überhöht wurden, spielten jedoch in der Wahrnehmung hier in Mailand kaum eine Rolle. Dabei ging es in einer ziemlich provinziell anmutenden Debatte auch immer um „die Deutschen“, die wie Riccardo Muti verlauten ließ, auch nicht mit Verdi in Bayreuth eröffnen würden. Verdi versus Wagner war ein Dauerthema der letzten Wochen. Und die Scala ein Nestbeschmutzer, weil sie nicht – wie etwa Muti in Rom mit „Simon Boccanergra“ – einen Verdi zur Eröffnung des doppelten Jubiläumsjahres der 200. Geburtstage der beiden Komponisten einen Verdi spielte. Der steht nicht nur mit sieben verschiedenen Inszenierungen auf dem Spielplan der Scala. Sondern die Oper eröffnet die kommende Saison 2013/2014 auch mit einer „Traviata“ (am Pult Daniele Gatti, Regie Dmitri Cherniakov).
Bleibt noch eine Frage zu klären: die Rolle des Klaviers. Auf der Bühne des Lohengrin steht ein Klavier, an dem in einer Nebenhandlung gezeigt wird, wie Ortrud als ehemalige Erzieherin von Elsa das ihr anvertraute Kind züchtig, als es nicht genüg üben will. Im letzten Akt ist das Klavier umgestürzt. Jonas Kaufmann stützt sich mit einem Bein auf ihm ab, wenn er sich über Elsas Wahnvorstellungen beklagt. Das Klavier als Symbol für die Hausmusik in der Biedermeiergesellschaft, deren Untergang zu den Themen dieser Inszenierung gehört? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ein Kunstwerk muss nicht Fragen beantworten, sondern stellen. Und mit der Mailänder Inszenierung des Lohengrin ist Daniel Barenboim und Claus Guth – mit oder ohne Klavier – ein kleines Kunststück gelungen.
Ein Mitschnitt der Inszenierung ist hier zu sehen