EINE FASZINIERENDE STADTGESCHICHTE


Insolera (2): Eine Rezension über „Roma moderna. Un secolo di storia urbanistica“ von Italo Insolera, die 1966 in den „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ veröffentlicht wurde.

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Abgeschoben in die Vorstadt – die Borgata Giordani fotografiert von Italo Insolera

München/Urbino – Das bei Einaudi  zum ersten Mal 1962 erschienene Standardwerk Insoleras ist seither in zahlreichen Auflagen erweitert und aktualisiert herausgekommen – zuletzt im Jahre 2011. Diese letzte Ausgabe, die derzeit ins Englische übersetzt wird, spannt den Bogen von der Jahrtausendwende zurück bis in die Napoleonische Ära. Hier die Dokumentation der Rezension von Peter Kammerer, geschrieben in München 1966, die außerdem Antonio Cedernas Arbeit „Mirabilia Urbis“ (Einaudi 1965) einbezieht.

Insolera, Italo, Roma moderna. Un secolo di storia urbanistica. Turin (Einaudi) 1962, 272 S. 1200 Lire
Cederna, Antonio, Mirabilia Urbis. Turin (Einaudi) 1965, 519 S. 4000 Lire.

Die städtebauliche Entwicklung Roms

Die allgemeine Wirtschaftstheorie und selbst die Raumwirtschaftslehre betrachten die Stadt gewöhnlich als punktförmigen Ort, abstrahieren also von den Wechselwirkungen ihrer räumlichen Struktur und der Wirtschaft. Einige Probleme haben jedoch das Interesse der Wirtschaftswissenschaft an der Stadt immer wieder beschäftigt, so das Problem des Bodenmonopols (Oppenheimer), die Frage nach der Rolle der Stadt für die wirtschaftliche Entwicklung (historische Schule) und neuerdings die Probleme der regionalen Wirtschaftsplanung. Von diesen Fragestellungen her verdienen die vorliegenden Werke besondere Beachtung.

Insolera untersucht die städtebauliche Entwicklung Roms in den letzten hundert Jahren nicht nur mit den kritischen Augen des Architekten und Stadtplaners, sondern sieht in den Veränderungen des Stadtbildes auch das Ergebnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Aus diesem Ansatz ergibt sich eine faszinierende Stadtgeschichte des modernen Rom.

Das Verschleppen von Problemen

Die Hauptstadt des Kirchenstaates zählte 1870 etwas über 200 Tsd. Einwohner, von denen mindestens 20 Tsd., nach anderen Quellen aber 60 Tsd., vom Betteln bzw. von der kirchlichen Wohltätigkeit lebten. Neben Adel und hoher Geistlichkeit gab es eine kleine Schicht von Beamten und Verwaltern, einen zahlreichen niederen Klerus, Handwerker und Tagelöhner.

Diese Stadt, von fruchtbaren, aber verödeten und malariaverseuchten Feldern umgeben, wurde unvermittelt Hauptstadt des geeinten Italien. Die neue Verwaltung stand völlig unvorbereitet vor Problemen, deren Lösung jahrzehntelang verschleppt wurde. Anfängliche Wachstumsstörungen wurden daher zu bleibenden Strukturfehlern, einige negative Aspekte zu typischen Konstanten der römischen Stadtgeschichte. Die Elendsquartiere an der Peripherie, das Fehlen eines entwickelten Industriegebietes, Bodenspekulation, Konzentration des Grundbesitzes und schließlich die absolute Planlosigkeit des Wachstums der Stadt sind heute wie vor hundert Jahren hervorstechende städtebauliche Merkmale.

Die „Säuberung“ der Innenstadt

Das neue Bürgertum behielt nach 1870 wesentliche Züge der feudalen Gesellschaft, hatte mit dem Adel und der Kirche gemeinsame Interessen und ging mit diesen Kräften ein Bündnis ein, das selbst den Sturz des Faschismus überlebte. (Einzige Ausnahme war die aufgeklärte, liberale Periode während der „età Giolitti“, die Verwaltung Nathan 1907 bis 1913). Erstes Opfer dieser Allianz waren die Gärten der römischen Villen, die 1880-1890 durch barbarische Bodenspekulationen vernichtet wurden. (Villa Massimo, Perucchi, Patrizi, Magnani, Strozzi, Rondanini, Torlonia usw., aber vor allem die Villa Ludovisi. S. 54.) Mit einer ähnlichen Unbekümmertheit wurde zwischen 1930 und 1950 die Innenstadt „gesäubert“ und 1950 bis 1960 einer der letzten grünen Hügel, der Monte Mario zerstört. Keines dieser „Opfer“ kann durch städtebauliche Erfordernisse begründet werden. Es wuchsen das Verkehrschaos, die Mietskasernen und der Mangel an Grünflächen.

Die Raumordnungspläne der Jahre 1873, 1883, 1909, 1931 und 1942 wurden nie respektiert, was der vom Grundbesitz kontrollierte Stadtrat bereitwillig duldete. Von der gesetzlichen Möglichkeit, zur Durchsetzung der Bebauungspläne Grundstücke zu enteignen, wurde nie Gebrauch gemacht. Zahlreich waren die Vergünstigungen zur Förderung der Bautätigkeit, die den großen Gesellschaften enorme Gewinne brachten. (Im Jahre 1953 waren es vier Eigentümer, die schätzungsweise 30 Millionen Quadratmeter kontrollierten. S. 179).

Das fieberhafte Wachstum

Das Problem der Elendsquartiere wurde „verdrängt“, aber nicht gelöst. Die Barackenbewohner wurden z.T. zwangsweise an die Peripherie der Stadt abgeschoben (und mit jeder neuen Ausdehnung wieder an die Peripherie). Mit der Entfernung vom Zentrum schwand die letzte Möglichkeit kleiner Nebenverdienste und einer bescheidenen Tätigkeit im Handwerk oder dem Tertiärsektor. Die industriellen Arbeitsplätze beschränkten sich bis heute auf Betriebe der Energieversorgung und vor allem der Bauindustrie. Während die Stadt in der Nachkriegsperiode fieberhaft wuchs und die Werterhöhung der Grundstücke etwa 1000 % betrug (gegenüber 300 % in Mailand und 500 % in Genua, S.207), wurden die Vorstädte zu Kolonien unregelmäßig beschäftigter Bauarbeiter und zu Slums. Im Jahr 1957 wohnten rund 55 Tsd. Menschen in Elendsquartieren, 1961 waren es nach vorsichtigen Schätzungen ca. 70 Tsd. (S.195).

Insolera gibt in den letzten Kapiteln seines Buches einen Überblick über das Baufieber anläßlich des heiligen Jahres und der Olympiade und über die Diskussion des neuen Raumordnungsplanes bis 1962. (Eine in Vorbereitung befindliche Neuauflage wird zu dem mit einigen Jahren Verspätung erst 1966 verabschiedeten Plan Stellung nehmen.) Diese Diskussion wurde zum ersten Mal nicht nur im kleinen Kreis der politischen Ausschüsse und Interessenten geführt, sondern unter Teilnahme der Presse und einer breiten Öffentlichkeit. Entscheidende Beiträge leistete Antonio Cederna, dessen Zeitungsartikel aus den Jahren 1958-1965 im vorliegenden Band gesammelt sind. (Cederna eröffnete z.B. die erfolgreiche Kampagne zur Rettung der Via Appia Antica.)

Die Themen Cedernas

Cedernas Arbeiten befassen sich mit vier Themen: mit dem neuen Raumordnungsplan, den Grünflächen, dem historischen Stadtzentrum und dem Kampf um die Appia Antica. Auch hier kommen die grundlegenden Probleme zur Sprache, die Verteilung des Grundbesitzes und die Erfordernisse des modernen Städtebaus, die Ignoranz der Stadtverwaltung gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Problemen einer Millionenstadt, das Verhältnis von Stadt und Landschaft und das politische und wirtschaftliche Verhalten eines Bürgertums, das keine industrielle Revolution gekannt hat.

Insolera analysiert die Wachstumsgesetze einer Stadt, deren Raumordnung von wenigen Spekulanten bestimmt wird. Cederna führt einige Jahre das „Tagebuch“ dieser Stadt, mit einer Fülle von soziologischen, ökonomischen und städtebaulichen „Notizen“. Beide Werke beschreiben die moderne Stadtgeschichte Roms, auf deren neueste Entwicklung sie nicht ohne Einfluß blieben.

(München 1966)

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Aus: „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“, Band 179, Heft 6, De Gruyter Oldenbourg, München 1966. Die Zwischenzeilen wurden hinzugefügt.

Zur jüngsten Ausgabe von „Roma moderna“ siehe hier

An den Architekten und Stadtplaner Italo Insolera (1929-2012) erinnert Peter Kammerer in dem gerade erschienenden Band „Italo Insolera fotografo“(Palombi Editori), aus dem auch die Fotos entnommen wurden. Siehe auf Cluverius den Text Insolera (1): „Caro Italo“