EINE TRAM MIT TÜREN AUS TEAK


Die „Ventotto“ tut seit 1928 täglich ihren Dienst

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Die Mailänder lieben ihre alte Tram – zum Beispiel die Linie 1

Mailand. Die Stadt ist mit 181 Quadratkilometer Grundfläche eine kleines Gemeinwesen (Hamburg ist viermal, Rom sogar sechsmal größer). Wenn man sich jedoch zwischen Zentrum und Peripherie bewegt, kann und will man nicht alles zu Fuß erledigen. Da hilft ein relativ gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem. Und darin spielt die Tram eine wichtige Rolle. Jedem Neuankömmling fällt sie sofort auf, zum Beispiel ein Wagen der Straßenbahnlinie 1, der sich stockend durch den Verkehr in der eleganten Via Manzoni müht. Er rattert an der Scala vorbei und legt sich quietschend in die Kurve Richtung Piazza Cordusio.

„Guck mal, eine Museumsbahn“, ruft eine kleine deutsche Besucherin, die vielleicht aus München, Stuttgart oder Hannover modernere, voll klimatisierte Wagen mit elektronischen Türsystemen und digitalen Bildschirmen kennt. Diese Mailänder Tram hat über 80 Jahre auf dem Buckel und sieht ganz anders aus. Die Türen aus Teak klappen mit einem Druckluftmechanismus nach außen auf. Drinnen sind Sitzbänke aus dunkel lackierten Holzsprossen mit dem Rücken zur Außenwand des Fahrgehäuses angeordnet (29 Sitzplätze). Von Hand zu öffnende Schiebefenster ziehen sich über dem Metallchassis um den ganzen Wagen herum. Unter der Decke aus Lärchenholz hängen Lampen mit einem glockenartigen Schirm aus geripptem Glas – die Glühbirnen könnte man einzeln herausdrehen. Und auf Hinweisschildern wird man nicht nur aufgefordert, sich gut festzuhalten, sondern – vietato sputare – auch nicht auf den Boden zu spucken.

Die Leute, die auf den Holzbänken sitzen oder im hinteren Teil stehen und sich an den Haltegriffen festhalten, sind keine Museumsbesucher. Das sind ganz normale Fahrgäste der Mailänder Verkehrsbetriebe ATM, die auf einigen Linien besonders im Innenstadtbetrieb weiterhin Wagen der alten Tram-Baureihe 1500 einsetzen, wie sie Peter Witt in den Zwanzigerjahren zunächst für amerikanische Städte entwickelt hatte. 1928 wurden diese zweiachsigen Triebwagen zum ersten Mal in Mailand eingesetzt und werden deshalb hier zärtlich Milano Ventotto genannt. Die Mailänder lieben ihre alte, unverwüstliche Tram, von der heute noch 130 Wagen täglich unterwegs sind. Das entspricht etwas mehr als einem Drittel des gesamten Wagenparks der Mailänder Straßenbahnen. In der lombardischen Metropole sind zurzeit insgesamt sechs verschiedene Generationen von Straßenbahnen (bis zum Typ Sirio/Sirietto aus dem Jahr 2002) im Einsatz. Die ATM stellen aus der alten Serie außerdem Sonderwagen für den Verkehrsunterricht bereit, Touristen können abends in der Restaurant-Tram (festes Menü etwa 50 Euro) bei einer Stadtrundfahrt dinieren, und in der Vorweihnachtszeit vermittelt ein über und über mit glitzernden Eislichtern überzogener Wagen eine märchenhafte Atmosphäre.

Die Ventotto im Ausbesserungswerk

Doch die Ventotto ist vor allem ein Alltagsgefährt – und soll es auch bleiben, wie Ingenieur Simone Prosperi erklärt, der das Ausbesserungswerk in der Via Teodosio leitet. Hier unterzieht man die alten Wagen nach und nach einer Generalrevision, bei der gerade alle 130 Wagen mit einigen technischen Neuerungen ausgestattet worden sind. Zum Beispiel mit einer elektronischen Fernsteuerung für Weichen. Bis vor Kurzem konnte man manchmal den Fahrer sehen, wie er aus seinem Führerstand kletterte und mit einer langen Eisenstange die Weiche verstellte. Und wo das Dach über der Holzdecke wie früher mit einem geölten Segeltuch bedeckt ist, wird die Bedeckung jetzt durch Polyesterharz ersetzt. Im Großen und Ganzen allerdings, so der Ingenieur, handelt es sich bei der vier Monate dauernden Revision „um eine Restaurierung“. Die Wagen, die zuletzt orangerot angestrichen waren, erhalten ihr altes traditionelles gelb-beiges Outfit der Vorkriegszeit zurück.

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Stark „wie ein Esel“ – die Ventotto unterwegs

Die Bänke, die früher aufklappbar waren, werden wie 1928 aus Ulmenholz gefertigt, die Seitenwände mit Eiche verkleidet. In einigen Wagen, die seit den späten 1980er-Jahren nicht mehr in der Werkstatt waren, hat man in den schmalen Zwischenräumen von Verkleidung und Sitzen sogar Dokumente gefunden, die Fahrgäste verloren hatten. Die haben nicht schlecht gestaunt, als man sie jetzt ausfindig machen und ihnen Ausweise oder Briefe von vor über 20 Jahren zurückerstatten konnte. Natürlich hatten sie längst neue Ausweise, aber „es war wie ein Gruß aus der Vergangenheit“, erzählt Simone Prosperi, „und wir hatten unseren Spaß.“

Die Ventotto ist ein ungeheuer robustes und zugleich spartanisch ausgerüstetes Fahrzeug. Sie ist mit vier Elektromotoren (jeweils zwei pro Achse) mit einer Maximalkraft von je 750 Volt versehen. Die Achsen sind – für die Zwanzigerjahre war das eine Neuigkeit – auf einer beweglichen Halterung angebracht, so können die Wagen auch relativ enge Kurven meistern, woran heute Wagen der sogenannten Jumbotram scheitern. Die alte Tram erreicht zwar nur eine Höchstgeschwindigkeit von knapp 40 Stundenkilometern (Reisegeschwindigkeit 11,8 km/h gegenüber 26,8 km/h der U-Bahn), aber sie ist „stark wie ein Esel“, sagt ein Fahrer, der seit 20 Jahren im Dienst ist. Wenn im Einsatz die Technik einer neuen Jumbotram ausfällt, dann wird eine Ventotto hingeschickt, um den modernen Zug abzuschleppen. Dieser „Esel“ braucht jedoch viel Fahrgefühl, zumal der Wagen einen langen Bremsweg hat. Allein eine mechanische Klotzbremse, die auf die Räder wirkt, bringt eine Ventotto zum Stehen. Neuere Straßenbahnen sind längst auch mit einer elektrodynamischen Motorbremse ausgestattet. Als Fahrer muss man deshalb das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer viel mehr mit einbeziehen. Eine zurückhaltende, rein defensive Fahrweise sei angebracht, die man sich aber auch von den Autofahrern wünscht. Denn wenn es mal kracht, dann kann die robuste Tram einen ganz schönen Blechschaden anrichten. Auf jeden Fahrer kommen im Durchschnitt fünf oder sechs – zum Glück meist leichtere – Unfälle pro Jahr.