„ER HAT EINFACH KEINE GEDULD“


Was bleibt vom Leonardo-Jahr (1) : Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Pietro C. Marani

Verwirrende Haarpracht – Leonardo Entwurf „La Scapiliata“ (Bleiweiß auf Holz, zirka 1492/1501), Parma Galleria Nazionale delle Pilotta

Mailand – Ein Jahr ganz im Zeichen von Leonardo ist zu Ende gegangen. Der großen, einen Ausstellung in Paris (Louvre bis 24.2.2020) standen und stehen viele kleine Initiativen in Italien, allen voran in Mailand, aber auch in Rom, Florenz, Turin oder Parma gegenüber. Und dabei tauchten die merkwürdigsten Funde auf: In Florenz wurde bei einer Ausstellung über Verrocchio, den ersten Lehrmeister Leonardos, eine Marienstatue gezeigt, die die Kuratoren dem Mann aus Vinci zuschrieben. Leonardo als Bildhauer? Warum nicht, schließlich hat er in Mailand eine riesiges Reiterstandbild geplant – aber diese kleine Statue, die aussieht, als sei sie von dem Gemälde eines seiner Schüler abgekupfert, ein Original von Leonardo? In Mailand schenkte Herzog Lodovico dem Künstler und Wissenschaftler einen Weingarten, das ist belegt. Die Weinstöcke, die man heute dort sehen kann, sind sicher keine 500 Jahre alt. Bei Aufenthalten in der Romagna um 1502 soll er sich ebenfalls dem Weinanbau mit einem „Metodo Leonardo“ gewidmet haben, dem heute ein Weingut eine eigene Produktlinie widmet. Leonardo als Winzer?

Viele Geschichten blühen in einem solchen Erinnerungsjahr. Sicher ist, das man bei Leonardos unstillbarerer Neugierde, von der Natur zu lernen, und Gelerntes technisch wie künstlerisch umzusetzen, eigentlich nichts von vornherein ausschließen kann. Besser aber, sich auf weitgehend gesichertem Terrain zu bewegen. Etwa in einem Gespräch mit dem Kunsthistoriker Pietro C. Marani, Professor an der technischen Universität Mailand (Politecnico), Mitdirektor des Restaurierung des Abendmahls und Autor von dutzenden Arbeiten zum Thema Leonardo und Umkreis. Gerade ist im Verlag 24 Ore Cultura die erweiterte Neuauflage seiner prächtigen Leonardo-Monographie erschienen.

Was bleibt von diesem Jahr?

Pietro C. Marani: „Hoffentlich nicht nur eine Reihe von Ausstellungen, die nichts hinterlassen. Zu wünschen ist, dass darunter die eine oder andere nützliche Veranstaltung ist. Ich gehörte zum vom Kulturministerium eingerichteten Nationalkomitee, das Anträge auf mögliche Finanzierungen von Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr oder über die Vergabe der Schirmherrschaft des Ministeriums zu prüfen und zu bewerten hatte. Es gab eine ganze Reihe ernsthafter Initiativen neben weniger seriösen, von 130 Anträgen haben wir rund 70 positiv bewertet.“

So viele – zu viele?

„Vielleicht zu viele. Jedes Museum in Italien, das eine Arbeit von Leonardo besitzt, ein paar Zeichnungen, Blätter von Handschriften, möchte an dieser Marke 500 Jahre partizipieren und seine eigene Ausstellung machen. Also haben sich die Ausstellungen vervielfacht, wo eine vielleicht einheitliche Vorgabe, die aber bereits vor zwei Jahren vom Ministerium hätte ausgehen müssen, ein anderes Herangehen möglich gemacht hätte. Wenn wir alle zusammen gearbeitet hätten – Parma, Mailand, Venedig, Turin – , dann hätte es auch in Italien die „große“ Leonardo-Ausstellung gegeben. Aber was groß ist, muss nicht unbedingt etwas Positives hervorbringen. Auch kleine Ausstellungen können einen originellen Beitrag leisten. Und ich hoffe, das hat sich in dem einen oder anderen Fall bewahrheitet.“

Interesse an der Antike

Zum Beispiel in Parma in der Ausstellung über die Fortuna della Scapiliata, die „Erfolgsgeschichte der Scapiliata“, die Sie im Frühjahr zusammen mit Simone Verde, dem Sovrintendente von Parma, eingerichtet haben. Die „Scapiliata“, eine Zeichnung Leonardos mit einem Frauenkopf und zerzausten Haaren. Worum ging es?

„Das ist ein Rohentwurf, nicht fertig gestellt, auf einer Holztafel 24,7, mal 21 Zentimeter. Carlo Pedretti wollte in der Tafel eine Studie zu einem Engel erkennen und datierte sie ins erste Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Wir sind die Frage von einer anderen Seite angegangen. Das Thema der Frau mit zerzausten Haaren ist ein in der Antike beliebtes Thema. Leonardo setzte sich mit der Antike besonders in den Jahren seiner Mailänder Zeit auseinander, als er sich mit dem Sforza-Denkmal und dem Abendmahl beschäftigte.“

Welche Quellen hatte er?

„Natürlich Alberti, sowie Studien von Mantegna, der dieses Motiv der zersausten Frauenhaare aufgriff, und Stiche mit antiken Motiven, die zirkulierten. Die ‚Scapiliata’ ist ein Mosaikstein, der Leonardos Interesse an der Antike belegt, also in die 1490er Jahre fällt, lange bevor er in Rom wirklich antiken Werken gegenüberstand. Wenn man sich die Windsor-Zeichnung für den Kopf Giacomo Maggiore im Abendmahl anguckt, dann lassen sich durchaus Ähnlichkeiten festmachen, obgleich es sich hier um einen Männerkopf handelt.“

© Cluverius

Leonardo leuchtet – Licht-Installation auf dem Filareti-Turm des Castello Sforzesco

In der Biblioteca Ambrosiana hat es einen Reigen von 4 Ausstellungen zum Codex Atlanticus gegeben. Die dritte Ausstellung dieser Reihe zeigte Blätter, die aus seinen letzten Lebensjahren am Hof des Königs von Frankreich stammten. Darin konnte man auch einen Architekt Leonardo finden?

„Über Leonardo als Architekten zu sprechen, bleibt immer sehr theoretisch. Er hat wenig hinterlassen, wenn man einmal von dem Entwurf für den Tambour des Mailänder Doms absieht. Darüber gab es eine Ausstellung im Dommuseum. Seine französischen Skizzen sind zudem sehr summarisch. Es gibt diese Buch von Carlo Pedretti ‚The Royal Place at Romorantin’, das eine Beteiligung Leonardos an der Planung für Romorantin beschreibt. Doch gib es keine schriftlichen Dokumente und auch die Skizzen im Codice Atlanticus haben mit anderen Arbeiten zu tun. Meiner Meinung nach könnte es sich dabei um Ideen für ein neues Schloss in Amboise handeln. Aber das sind schnell hingeworfene Skizzen, die offen sind für unterschiedliche Hypothesen.“

Doch taucht dabei immer wieder ein Vorbild auf – das Castello Sforzesco?

„Das hat er immer im Hinterkopf, auch wenn er Ideen entwickelt für einen Palazzo der Medici in Florenz oder für Festungsbauten für Cesare Borgia. Da ist immer dieses Schema einer viereckigen oder quadratischen Anlage mit einer doppelten Mauer und einem inneren Kastell sowie vier Türmen an den Ecken, das er in Mailand im Kastell an der Porta Giovia lange vor Augen gehabt hatte und das seine späteren Ideen beeinflusst hat.“

Die Erfindung der Wasseruhr

Was wieder einmal belegt, wie prägend die Mailänder Jahre für ihn waren?

„Absolut, ja. Hier in Mailand erweitert er seine Interessen, weil es im Mailänder Ambiente eine Vielzahl von Anregungen gibt. Das reicht vom Fürsten, von Lodovico il Moro, der von ihm Festungsanlagen fordert, neue Waffen oder alle möglichen Maschinen, bis zum vorindustriellen Klima in Mailands Wirtschaft, die Webmaschinen etwa. Anregungen, die er in der Toskana so nicht gefunden hätte. Oder das Gewässernetzwerk der Lombardei, die Kanäle, besonders den Naviglio der Martesana. Er hat das System der Schleusen nicht erfunden, aber verbessert. Und vieles anderes, wie zum Beispiel die Wasseruhr. Wasser musste bezahlt werden, als erfindet er eine Vorrichtung, die die Unzen Wasser messen kann, die durchfließen.“

Seine Überlegungen notierte er auf Blättern. Viel ist verlorenen gegangen. Was vorliegt, ist in sogenannten Codices gesammelt. Einer davon ist in Privatbesitz, der Codex Leicester. Bill Gates ersteigerte ihn vor 25 Jahren am 11. November 1994 für 30,8 Millionen US-Dollar. Damit erzielte der Codex Leicester den höchsten Preis, der jemals für eine Handschrift bezahlt wurde. Was zeichnet ihn aus?

„Ein Codex mit nur 18 Blättern gegenüber den rund 1100 des Codex Atlanticus der Ambrosiana. Aber er ist im Vergleich zu anderen ein in sich relativ geordneter Codex zu Themen des Wassers und auch der Astronomie. Er ist geordnet, weil nicht Leonardo, sondern jemand anders ihn geordnet hat. Leonardo arbeitet mit Blättern, die er einmal faltet, und so die vier Seiten für unterschiedliche Notizen und Zeichnungen nutzt – und sie dann ablegt. Er hat einfach keine Geduld. Das Denken von Leonardo konzentriert sich fast immer auf eine Sache – und auf ein Blatt. Und dann wechselt er den Gegenstand. Immerhin: Im Codex Leicester ordnen sich Skizzen eindeutig dem Hauptthema zu, was Wasser überhaupt ist, welche Funktion es im Meer, im See, im Fluss hat. Leonardo versucht hier, seinen wissenschaftlichen Interessen eine literarische Form zu geben.“

Die Zeichnung – der Entwurf der Welt

Zeichnungen Leonardos aus den unterschiedlichsten Quellen standen im Mittelpunkt einer Ausstellung, die nicht in diesem Jahr, sondern vor vier Jahren hier in Mailand während der Expo-Monate im Palazzo Reale zu sehen war. Lohnt es an sie zu erinnern?

„Aber natürlich! Das war eine Ausstellung, die man nicht so schnell wiederholen kann. Da wurden 110 Zeichnungen von Leonardo gezeigt. Die größte Ausstellung, die je außerhalb der Sammlung der britischen Krone zu sehen war. Dazu kamen neun malerische Arbeiten. Unter anderem die „Belle Ferronnière“ oder der „San Giovanni Battista“ aus dem Louvre, der „San Gerolamo“ aus dem Vatikan oder die „Madonna Dreyfuss“ aus Washington. Die Zeichnung aber, die Skizze ist vielleicht der Teil, der am besten das Denken von Leonardo widerspiegelt. Sie ist sein Untersuchungsinstrument. Der erste Formulierung eines Problems erfolgt mit der Zeichnung. Wir hatten der Ausstellung den Untertitel ‚Il disegno del mondo – Der Entwurf der Welt’ gegeben, um zu unterstreichen, wie wichtig die Zeichnung für Leonardo war.“

Pietro C. Marani: Leonardo (erweiterte und aktualisierte Neuauflage). 24 Ore Cultura, Mailand (2019). 384 Seiten (300 Illustrationen), 129 Euro. (Eine deutsche Ausgabe war 2001 bei Schirmer/Mosel München erschienen, der Titel ist vergriffen).

Zum Codex Leicester siehe auch ein Kalenderblatt, das der Deutschlandfunk am 11.11.2019 ausgestrahlt hat.

© Politecnico Milano

Pietro C. Marani

 

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