GRÜSSE AUS DEM JENSEITS


Italien feiert den 750. Geburtstag von Dante Alighieri

Dante Denkmal Santa Croce

Dante auf der Piazza Santa Croce

Florenz: Was hatte ihm nur den Kopf verdreht? Der wohl 35jährige fand sich in einem dunklen Wald wieder, „da ich vom rechten Wege abgekommen“, wie er sich später erinnerte. „War ich doch zu der Zeit so schlafbenommen,/ Zu der die wahre Straße ich verließ.“ Es weiß es nicht, oder er will es uns nicht sagen. Doch hat er trotzdem eine ganze Menge zu erzählen: eine wahrlich abenteuerliche Reise mit 14.233 Versen in drei Büchern zu je 33 Gesängen (plus einem als Prolog).

Eine Traumreise, wohin sonst keiner kommt. In die drei Reiche des Jenseits, zunächst in die Hölle, dann hinauf ins Purgatorium, auf den „Läuterungsberg“, und schließlich in die lichten Sphären des Paradieses. Geschichte erschließt sich in Geschichten. Mit von der Partie sind böse Buben und hübsche Frauen, es geht um Sex und Macht, Verrat und Geld, Freund- und Feindschaft, Mord und Totschlag, und am Ende steht die reine Liebe wie das ewige Heil. Und das Ganze mit dem Versmaß der Elfsilber. So etwas Tolles kann sich nur das italienische Mittelalter auf seinem Höhepunkt am Wechsel zum 14. Jahrhundert ausdenken.

Jedes Kind (zumindest in Italien) kennt heute den Namen Dante Alighieri, den Autor dieser „Göttlichen Komödie“ mit seiner Hakennase. Im Jahr 1265 wurde er in Florenz geboren. Nach seinem Großvater hieß er eigentlich Durante, was sich später im Alltagsgerede zu Dante abschliff. Er kam irgendwann zwischen Ende Mai oder Anfang Juni jenes Jahres auf die Welt. Und wurde sogar erst ein Jahr später am Ostersonnabend (26. März 1266) getauft. Jedenfalls begeht Italien jetzt den 750. Geburtstag seines großen Poeten. Denn die „Divina Commedia“ ist das erste große Werk, das in der Rede des Volkes geschrieben wurde und damit die italienische Schriftsprache begründet. Sprachwissenschaftlern nach war der italienische Grundwortschatz zu Dantes Zeiten bereits zu 60 Prozent herausgebildet. Das heißt, von den rund 2000 Wörtern, die man heute benötigt, um sich auf Italienisch verständlich zu machen, sind bereits rund 1200 bei Dante zu finden.

Die Sprache, in der sich die Weiber unterhalten

Für die Entwicklung Italiens als Nation sei dieses Phänomen, so Umberto Eco, allerdings „als negatives Zeichen“ zu werten. Denn die Sprache habe sich kaum fortentwickelt. Wenn heute ein Franzose, Engländer oder Deutscher einen Text vom Anfang des 14. Jahrhunderts in seiner Sprache lesen würde, verstünde er kaum etwas. Dante aber verstehe immer noch (fast) jedes Kind, wenn man einmal vom historischen Kontext absieht. Dante nannte seinen Text übrigens nur „Commedia“ und spielte damit auf den Gebrauch der „vulgären“ Sprache an, „in der sich auch die Weiber unterhalten.“ Das „Divina“, das „Göttliche“ wurde erst durch einen Jubelkommentar von Boccaccio 1373 hinzugefügt und setzte sich dann später durch.

Also wird „Dante 750“ gefeiert. Mit einer Feststunde etwa im Parlament und Lesungen quer durchs Land. Mit ernsten Kongressen wie mit frechen Comics. Beim Ravenna-Festival wird am 27. Juni bei einem multimedialen Konzert Tschaikowskis „Francesca da Rimini“ und die „Dante-Symphonie“ von Liszt aufgeführt, Chiara Muti rezitiert Teile der „Commedia“ und es werden dazu die Illustrationen von Gustave Doré aus dem 19. Jahrhundert gezeigt, die wohl bekanntesten aller Dante-Bebilderungen. Im Herbst hat dann die Tanz-Biennale von Venedig eine Ballettinszenierung unter dem Titel „Ballo 1265“ im Programm.

„Im Himmel, der ihr Licht am klarsten weist,/ Hab ich geweilt; und Dinge sah ich viele,/ Die wiedersagt kein heimgekehrter Geist“. Die italienische Astronautin Samantha Cristoforetti kam Dantes Erfahrungen ganz nah. Aus dem All grüßte sie Ende April von der internationalen ESA-Raumstation im weinroten T-Shirt mit der Lesung des ersten Gesangs des Paradieses. Anschließend übergab sie die Textblätter der Unendlichkeit der Schöpfung – wie die cumäische Sibylle, die ihr Orakel auf Blätter schrieb und dem Spiel des Windes überließ. „So ist auch vor dem Winde einst zerstoben/ Auf leichten Blättern der Sibylle Wort.“ – heißt es in der Übersetzung von Wilhelm G. Hertz (Paradies, XXXIII Gesang).

Mit Dante gegen Berlusconis Konsumkultur

187 Veranstaltungen weist der offizielle Festkalender des Kulturministeriums für „Dante 750“ aus – und fast ebenso viele im Ausland. In Stuttgart ist etwa eine Marathonlesung des Purgatoriums im italienischen Kulturinstitut geplant. Und doch macht sich in Italien kein Dante-Fieber breit. Bei den Feiern ist viel Routine mit im Spiel und ein durch Schulunterricht erworbenes spannungsloses Allgemeinwissen. Zitate für alle Lebenslagen. Vielleicht weil Dante im debattiersüchtigen Italien unumstritten ist. Es gibt hakennasige Denkmäler in jeder Stadt, da kann nur noch ein Garibaldi mithalten. Dante sei die einzige Person, das einzige Ideal, um das man sich nicht zanke, sagt Eugenio Giani, Vorsitzender der Dante-Gesellschaft und Koordinator der Jubiläumsfeiern. Giani, Politiker der sozialdemokratischen Partei PD natürlich aus Florenz, ein enger Mitstreiter von Ministerpräsident Matteo Renzi (ehemals Bürgermeister von Florenz), schreibt dem in Florenz geborenen Autor der „Göttlichen Komödie“ eine nationale Funktion zu.

Das wurde vor ein paar Jahren deutlich, als eine Art Kampf um die kulturelle Hegemonie im Land ausgebrochen war. Berlusconi verfolgte die Idee eines modernen Italiens, das sich mit Konsum und einer ganz auf das Heute ausgerichteten Lebensweise vom „Ballast alter Strukturen“ befreien sollte. Dass damit auch die kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens zerstört werden würden, spürte ein wacher Teil der Gesellschaft. Plötzlich wurden so öffentliche Lesungen der „Göttlichen Komödie“, die es auch in der Zeit zuvor gegeben hatte, zu Publikumsrennern. In Mailand etwa belagerten Kulturhungrige die Kirche Santa Maria delle Grazie, in der der heute 86jährigen Dante-Kenner, Regisseur und Schauspieler Vittorio Sermonti einen Zyklus von Vorträgen abhielt. Die Veranstaltungen mussten jeweils mit Lautsprechern auch auf die Piazza und in die Nebenstraßen übertragen werden.

Der Komiker Roberto Benigni trug den letzten Gesang aus dem Paradies auf dem Schlagerfestival von Sanremo 2002 vor. Und vier Jahre später las und interpretierte er unter dem Titel „TuttoDante“ die „Commedia“ an dreizehn Abenden auf der prallgefüllten Piazza Santa Croce von Florenz. „Es gab so eine Art Südkurve der Göttlichen Komödie“, erinnert sich Benigni in seinem Buch „Mein Dante“ (auf Deutsch bei Luchterhand). Die Zuhörer kamen ihm „wie Dante-Hooligans“ vor. Es gab Auseinandersetzungen, Diskussionen, große Emotionen. „Man bekam unmittelbar die Größe unserer Vergangenheit zu spüren.“

Das Leben – spannender als jeder Thriller

Die macht sich auch ein Dan Brown in seinem Thriller „Inferno“ zu Nutze. Darin geht es unter anderem um eine verschlüsselte Botschaft, die sich angeblich hinter der Totenmaske Dantes befinden soll, die im Palazzo Vecchio von Florenz gezeigt wird. Der Roman wird gerade in der Hauptrolle mit Tom Hanks verfilmt. Doch spannender als jeder Thriller liest sich das Leben des Dante selbst, der 1265 in die Zeit des europäischen Frühkapitalismus hineingeboren wurde. Handel und Wandel ließen Mittelitalien und die freien Städte aufblühen. Zugleich überlagerte ein politischer Streit zwischen Kaisertreuen (Ghibellinen) und Anhängern des Papstes (Guelfen) das Land und die Städte. Der wurde blutig ausgefochten und endete mit Verbannung der Unterlegenen und Zerstörung ihrer Häuser. Ob jemand der einen oder anderen Partei angehörte, war nicht selten auch auf persönliche Interessen oder Streitereien zurückzuführen.Gemälde von Henry Holiday

 

Dante trifft Beatrice – ein Gemälde von Henry Holiday (National Museums Liverpool)

 

Dante selbst, der den Bildungsweg eines vornehmen Jünglings durchlaufen konnte und Latein, Provenzalisch und Französisch studiert hatte, griff mehrfach zu den Waffen und trug zur Vertreibung der Ghibellinen aus Florenz bei. Als Lokalpolitiker und Liebesdichter blieb er zunächst eher zweitrangig. Die Anbetung einer „Lichtgestalt“, die er angeblich zum ersten Mal als Neunjähriger zu Gesicht bekam, veränderte dann sein Schicksal. In dem Buch „Das neue Leben“ erzählt und besingt er in Versen Beatrice, was wörtlich übersetzt „Beglückerin“ heißt, obgleich er die verheiratete Frau nur ein paar Mal von weitem grüßen konnte. Die Nachwelt hat in der Angebeteten die Figur der Bice Portinari erkennen wollen, die im Jahr 1290 im Alter von nur 24 Jahren starb. Im „Neuen Leben“ schrieb Dante sich den Schmerz über ihren Tod von der Seele – und fasste einen Plan. Die Geliebte, die in höchster Sublimierung nicht Gegenstand körperlichen Verlangens war, sondern als Führerin zur höchsten Liebe und Vollendung im Göttlichen erschien, sollte ihn bei einer kommenden Dichtung begleiten. Hier begann die Arbeit an der „Commedia“, die sich über 20 Jahre hinziehen sollte.

Und ein zweites, vielleicht noch wichtigeres Ereignis wirbelte das Leben Dankes – der (glücklich?) verheiratet und Vater von vier Kindern war – durcheinander. Die Partei der Guelfen in Florenz hatte sich in zwei Fraktionen geteilt: die „Weißen“, die auch eine gewisse Offenheit gegenüber dem Kaiser zeigten, und die „Schwarzen“, die fanatisch päpstliche Interessen durchsetzen wollten. Dante gehörte zu den „Weißen“, die schließlich unterlagen. Er musste im Jahr 1302 die Stadt verlassen, seine Besitztümer wurden eingezogen und er wurde später, wie auch seine Söhne, zum Tode verurteilt und als vogelfrei erklärt. Es begann ein rastloses Leben im Exil. Der Verbannte musste Städte und Landschaften wechseln, hielt sich unter anderem in Verona und Venedig auf, in Bologna und an der Riviera, und war auf die Unterstützung von Freunden und Gönnern angewiesen.

Eine Entschlossenheit, die an Vermessenheit rührte

Der Stuttgarter Romanist und Dante-Forscher Karlheinz Stierle hat gerade in seinem Buch „Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt“ (Verlag C.H. Beck) eindrücklich beschrieben, wie der Umhergetriebene mit einer „Entschlossenheit, die nicht selten an Vermessenheit rührte“, sich der Arbeit an der „Göttlichen Komödie“ widmete. Daneben entstanden kleinere Werke wie ein philosophisches Fragment („Das Gastmahl“) oder eine politische Streitschrift („Monarchia“). Aber mit der „Commedia“ wollte er Virgil übertreffen und eine Vision von der Welt als Ganzer entfalten. Dantes grenzenloser Ehrgeiz, so Stierle, wurzelte in der „Schmach und Verzweiflung des Heimatlosen“. Schließlich fand er Unterschlupf in Ravenna, für das er auch politisch tätig wurde. Bei einer Reise als Botschafter nach Venedig erkrankte Dante 1321 und starb bei der Rückkehr nach Ravenna im Alter von 56 Jahren. Dort liegt er in einer kleinen, mehrfach umgebauten Grabkapelle bestattet. In Florenz hat man in Santa Croce ein prächtiges Kenotaph errichtet. Eine reine Erinnerungsstätte, denn Ravenna weigert sich standhaft, die Reliquien des Poeten herauszugeben.

Was hat ihn schließlich vom Wege abgeführt? Was haben seine von ihm selbst in der „Göttlichen Komödie“ immer wieder beschriebenen Wechsel der Geisteszustände, die Tagträume, die Muskelschwächen bis hin zu von starken Emotionen hervorgerufenen Stürzen zu bedeuten? Im 19. Jahrhundert hatte der höchst umstrittene Kriminalanthropologe Cesare Lombroso Epilepsie beim Poeten diagnostiziert. Eine These die der Dante-Forscher Marco Santagata gerade wieder aufgegriffen hat. Doch gehen die meisten Wissenschaftler inzwischen davon aus, dass Dante an Narkolepsie gelitten haben könnte. Einer seltenen Krankheit, die im Durchschnitt nur vier von 10.000 Menschen befällt. Auf Deutsch heißt sie auch „Schlummersucht“. Man muss ein Träumer sein, um es weit zu bringen.

(Erstveröffentlichung in gekürzter Fassung in der „Stuttgarter Zeitung“ am 30.5.2015)