HALL OF FAME


Von Raffael zu Legosteinen: Henry Keazor verfolgt in einem anregenden Buch Adaptionen und Interpretationen der „Schule von Athen“ durch fünf Jahrhunderte

Die Schule von Athen – Wandfresko in der Stanza della Segnatura im Vatikanpalast, ein Hauptwerk von Raffael (entstanden 1510/1511). Der Karton wird in der Mailänder Pinacoteca Ambrosiana aufbewahrt.

Mailand/Rom – Endlich, Impfpässe oder Tests öffnen die Grenzen. Wir können wieder reisen, auch nach Rom, auch in die Vatikanischen Museen, um staunend vor Raffaels Meisterwerk „Schule von Athen“ (1509/1511) zu verharren. Nun ist das Buch von Henry Keazor mit dem Titel „Raffaels Schule von Athen(Wagenbach Verlag) keine Buch zur Reise, dafür würde es auch in Form und Gewicht das Gepäck für unterwegs zu sehr belasten. Aber zurück aus Rom oder zur Vorbereitung auf den Besuch der Vatikanischen Museen – oder einfach so –, lädt der Autor zu einer ganz eigenen, neuen, bunten, abenteuerlichen, vergnüglichen wie lehrreichen Reise covidfrei durch Zeiten und Orte ein, die uns durch fünf Jahrhunderte, viele Länder und Dutzende Museen und Sammlungen führt. Eine Zeitreise, in der uns Raffaels Schule von Athen in immer neuen Interpretationen, Deutungen und Umdeutungen bis heute begleitet.

Das rund 770 x 500 cm große Wandfresko vereint bedeutende Philosophen der Antike aus unterschiedlichen Zeiten und Orten in einer einzigen Szene. Das ist eine Art „Zunftbild“, eine Ruhmeshalle der Philosophie – 58 Persönlichkeiten mit Plato und Aristoteles im Zentrum. Kaum ein anderes Werk der westlichen Kunst hat ausgehend von seiner Dramaturgie, Komposition und seinem architektonischen Rahmen so viele Rezeptionen und Adaptionen bis hin zu aktuellen Re-Inszenierungen in Filmen, Comics, Werbung und Musik-Videos erlebt.

Um dahin zu kommen, führt uns der Autor in dem einerseits mit vielen Farbabbildungen prächtigen aber zugleich handlichen Band mit einem für das Gebotene sensationellen Preis (32 Euro) durch 500 Jahre Kunstgeschichte, die vor allem eine Geistes- und gelegentlich auch eine Sozialgeschichte ist. Der 56jährige Kunsthistoriker Henry Keazor, der an der Universität Heidelberg lehrt, hat sich bereits mit unterschiedlichsten Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Medien, zu Kunstfälschungen, zu Musik und Philosophie einen Namen gemacht. In spannenden Kapiteln führt er durch u.a. christliche oder kunsttheoretische Adaptionen über die Rolle der Akademien bis hin zu parodistischen und satirischen Interpretationen der Schule von Athen – zum Beispiel bei William Hogarth. Um schließlich in der Gegenwartskunst (Cy Twombly) und der Malerei im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit (Foto, Film, Video) und im Internet zu landen. Was in vielen Fällen eine Auseinandersetzung mit dem Original ist – und damit in der Aktualisierung die Langlebigkeit und inhaltliche Tiefe von historischen Kunstwerken unterstreicht – verselbständigt sich etwa in manchen Musik-Videos wie auch in einer Darstellung mit Legosteinen, wo Raffael nur noch ein spielerisches Echo ist, das nicht mehr zu ihm zurück führt.

A Renaissance Facebook ?

Hoch ist es Henry Keazor anzurechnen, dass er mit der Idee aufräumt, Raffaels Darstellung sei gleichsam „A Renaissance Facebook“ und unter den dargestellten Figuren lassen zeitgenössische Porträts etwa von Michelangelo, Leonardo, Bramante oder Raffael selbst ausmachen. Gesichert, schreibt Keazor, ist nur das Porträt von Raffael selbst, mit der Künstler seine Arbeit passend zur traditionellen Praxis gewissermaßen „visuell“ signierte. Besonders Eklatant ist die Zuschreibung von Leonardo da Vinci in der Darstellung der Figur des Platos. Sie wurde erst spät vor gut 200 Jahren postuliert, nachdem ein – bis heute umstrittenes – Selbstbildnis Leonardos aufgetaucht war, das „freilich nur sehr allgemeine und vage Ähnlichkeiten mit dem Philosophen aufweist“, so der Autor zurecht. Den zweiten Teil der Geschichte erzählt er aber nicht: Im Umkehrschluss haben Verfechter der Echtheit des angeblichen Selbstporträts zur Verteidigung ihrer These angeführt, es ähnle frappierend dem Bildnis von Plato in der Schule von Athen, und Raffael habe doch schließlich In Plato Leonardo dargestellt… So taucht bis heute in allen Medien immer diese Bildnis eines alten Mannes mit genialem Blick und wilden Haar- und Bartwuchs, wenn von Leonardo die Rede ist.

Henry Keazor: Raffaels Schule von Athen. Von der Philosophenschule zur Hall of Fame. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 304 Seiten (mit vielen meist farbigen Abb.), 32 Euro

Im Wagenbach Verlag liegt im Rahmen der groß angelegten Vasari-Edition die kommentierte Raffael-Biographie Vasaris vor. Siehe auch auf Cluverius „Der Wagenbach-Vasari