EIN FLÜCHTIGES ERLEBNIS


Beeindruckend: „The Floating Piers“ von Christo am Lago d’Iseo

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Unterwegs auf  den „schwimmenden Molen“ auch unter Wolken

Lago d’Iseo/Brescia (18.6. bis 3.7. 2016) – Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl. Man betritt in Sulzano am Ostufer des Lago d’Iseo den auf der Oberfläche schwimmenden Steg und geht schnurgerade auf die im See liegende Insel Monte Isola zu, die wie ein kleiner Berg aus dem Wasser ragt. Der Boden federt unter den Füßen. Und wenn Wellen kommt, übertragen sich leicht ihre Bewegungen. Sorgenvoll geht der Blick zum Himmel und zu den grauen Wolken, die vorüber ziehen. Gewitter und Platzregen hatten gerade in den vergangenen Tagen die Fertigstellung des neuesten Projektes von Christo erschwert. Doch die Arbeit an den „Floating Piers“ ist getan, dunkelgelb zeichnet sich der wie mit einem Lineal gezogene Weg der „schwimmenden Molen“ übers Wasser zur Monte Isola ab, und zu der kleinen Nachbarinsel, der Isola San Paolo.

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81 Jahre und voller Energie: Christo und die Medien

Die Monte Isola erhebt sich 450 Meter über dem Wasserspiegel des Sees. Auf ihr leben rund 2000 Menschen. „Und die haben keine Brücke, sie müssen immer die Fähre benutzen“, sagt Christo im Gespräch am Eröffnungstag. „Und jetzt können sie für 16 Tage über das Wasser gehen.“

220 Tausend Module aus Polyethylen

Christo zeigt sich gerne ironisch. Sicher seine Arbeit hat auch einen ganz praktischen Nutzen, aber der technische und organisatorische Aufwand für „The Floating Piers“ gilt sicher nicht nur der zudem relativ kurzzeitlichen Erleichterung für den Verkehr von und zu den Inseln. Den insgesamt 3 Kilometer langen und 16 Meter breiten Weg bilden 220 000 Module aus Polyethylen. Sie sind mit einem – in Lübeck produzierten –
dunkelgelben Kunststoff bedeckt, dessen Farbe sich im Sonnenlicht in ein Gelbrot verändert. Der Eintritt ist frei. 24 Stunden am Tag, wenn es das Wetter erlaubt.

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Germano Celant – Freund und Kurator

Der Kunstkritiker Germano Celant, der das Projekt von Anfang an begleitet hat, spricht von einem „großen Landschaftsbild“. Christo beschäftige sich aber nicht mehr mit dem Abbild von Landschaft, wie es etwa noch die Impressionisten getan haben, sondern greife in Landschaft ein. „Das ist ein historischer Sprung.“ Christo macht eine Arbeit, in der man Natur nicht nur sehen, sondern auch erleben kann. Man spürt die Bewegung des Wassers unter den Füßen. Deshalb resümiert Celant: Die Impressionisten haben Landschaft repräsentiert, Christo arbeitet mit ihr.“

Vergänglichkeit wird zum Mythos

16 Tage bleiben „The Floating Piers“ bestehen, dann wird alles recycelt. Zum Wesen der Arbeit gehört ihr flüchtiger Charakter. Gerade in der Vergänglichkeit, in der kurzen Dauer liegt ihre Stärke. Sie wird zum Mythos.

Der 81jährige Landschaftskünstler Christo ist in Bulgarien aufgewachsen und lebt seit langer Zeit in New York. Zusammen mit seiner vor sieben Jahren verstorbenen Frau Jeanne-Claude hat er mit Projekten wie etwa der Verhüllung des Berliner Reichstages oder der Aufstellung von 7000 Toren im New Yorker Central Park Aufsehen erregt. Nach dem Tod von Jeanne-Claude war es, von kleineren Arbeiten abgesehen, um Christo still geworden. Als ihm 2014 in Stuttgart der Theodor-Heuss-Preis verliehen wurde, hatte er – wie er heute gerne erzählt – seinen Mitarbeitern bei der Fahrt im Auto von Basel aus gesagt: „Im nächsten Jahr werde ich 80 Jahre alt, Projekte in den USA und in Abu Dhabi kommen nicht voran, ich will noch schnell etwas Großes machen, bevor ich sterbe.“ Er und sein Team besannen sich eines alten Projektes, eben „The Floating Piers“, der „schwimmenden Molen“.

Das lang geplante Projekt

Das Projekt war in den 1980er Jahren für das Delta des Rio della Plata in Argentinien geplant, kam dort aber wegen mangelnder Genehmigungen ebenso wenig zu Stande wie später in der Bucht von Tokio. Freunde gaben den Tipp, es doch auf einem der norditalienischen Seen zu versuchen. Die Wahl fiel auf den kleinen Lago d’Iseo zwischen dem Comer- und dem Gardasee im Hinterland der Stadt Brescia.

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Wie ein Feuerstreif – Vom Ort Sulzano aus gesehen

Wasser hat in vielen Projekten der Verpackungs- und Landschaftskünstler Christo und seiner vor sieben Jahren verstorbenen Lebensgefährtin Jeanne-Claude eine Rolle gespielt. In der Stadt Brescia ist im Museo di Santa Giulia bis zum 18. September die Ausstellung „Water Projects“ zu sehen. Sie dokumentiert mit Zeichnungen, Collagen und Modellen Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude, die mit Wasser in Verbindungen standen. Das Künstlerpaar hat etwa 1969 einen Küstenstreifen bei Sydney in Australien eingepackt, 1983 Inseln vor Miami mit Stoffplanen umgürtet oder 1985 die Seine-Brücke Pont Neuf in Paris verhüllt.

Eine 15 Millionen US-Dollar-Investition

Die Ausstellung macht die Arbeitsweise der Künstler deutlich. Bereits vor der eigentlichen Realisierung stellten sie Zeichnungen und Collagen her. Über ihren Verkauf wurden die Projekte dann finanziert. „The Floating Piers“ sind eine 15 Millionen US-Dollar-Investition. Kosten, die allein das New Yorker Privatunternehmen Cjv Corporation von Christo trägt. So werden in Brescia auch Arbeiten von dem Iseo-Projekt ausgestellt. Doch bei der Eröffnung redet Christo mal nicht übers Geld, was er sonst nicht scheut.

„Alle unsere Projekte sind materiell und nicht virtuell“, sagt er. Er könne nicht Autofahren, mag nicht telefonieren, verstehe nichts von Computern. „Ich verlasse mich lieber auf meine Sinne.“ Und das Iseo-Projekt greife eine der ältesten und stärksten sinnlichen Erfahrung der Menschheit auf: „das Zufußgehen“.

Ökologische und touristische Ästhetik

Christos Arbeiten sagt man wegen ihrer zeitlichen Begrenztheit und des damit verbundenen schonenden Umgangs mit der Umwelt eine „ökologische Ästhetik“ nach. Erwartet werden am Lago d’Iseo mehrere Hunderttausend Besucher. „The Floating Piers“ sind ein Medienereignis und verfolgen sicher auch eine „touristische Ästhetik“, was aber kein Nachteil sein muss. Es ist eine vornehme Aufgabe von Gegenwartskunst, Menschen neugierig auf sich zu machen, die vielleicht noch nie eine Galerie besucht haben. Wenn Kunst dann neben dem kulturellen auch noch ökonomischen Reichtum erzeugt – um so besser. Auf 50 Millionen Euro wird der Umsatz geschätzt, den das Projekt im Raum Brescia-Iseo stimuliert. Am See ist Christo längst ein Mythos.

Und jeder Besucher kann bestätigen: Wer auf Christos Stegen über den See zur Monte Isola gelaufen ist, wird das so schnell nicht vergessen.

Nachtrag 1: Laut Veranstalter haben vom 18.6. bis 3.7. über eine Millionen Personen die Installation von Christo betreten.

Nachtrag 2: Im September 2020 hätte er in den Pariser Triumphbogen einpacken sollen. Christo Vladimirov Javacheff, geboren 1935 in Gabrov (Bulgarien) starb am 31. Mai 2020 in New York im Alter von 84 Jahren in New York. Sein Freund und Kurator in Italien Germano Celant, geboren 1940 in Genua, starb am 29. April 2020 im Alter von 79 Jahren in Mailand.

The Floating Piers, Sulzano/Monteisola, Lago d’Iseo, 18.6. bis 3. Juli. Info: www.thefloatingpiers.com

Christo and Jeanne-Claude – Water Projects. Museo di Santa Giulia, Brescia, bis 18. September. Katalog (Silvana Editore) 34 Euro. Info: www.mostrachristo.bresciamusei.com

Zum Thema hat der Deutschlandfunk („Kultur heute“) am 18.6. einen Beitrag gesendet.
Siehe auch auf Cluverius: Zu Fuß über den See

Über die Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude und die laufenden Projekte informiert:
https://www.artsy.net/artist/christo-and-jeanne-claude