Die Ballettschule der Mailänder Scala lud zu einer Gala – und vergaß eine Einladung
Mailand (24.9.2003) – Wer feiert schon einen 190. Geburtstag? Der, der es kann. Die „Scuola di Ballo“ der Mailänder Scala zum Beispiel, die nach den russischen eine der ältesten Ballettschulen in Europa und sicher die bedeutendste in Italien ist. Am Dienstag Abend lud man zur Gala ins neue, ganz sachlich anmutende Teatro degli Arcimboldi, wo die Scala während der Renovierung ihres Stammhauses (noch bis Dezember 2004) gastiert. Eine Gala mit europäischen Glanz: aus London war die Royal Ballett School (gegründet 1926) gekommen, aus Moskau die Akademieschule des Bolshoi-Theaters (1773), aus Sankt Petersburg die Vaganova-Akademie (1738) und aus Deutschland die Ballettschule des Hamburg Ballett (1978).
Tränen des Glücks
Tränen des Glücks (und der Rührung) wurden von rauschendem Beifall überdeckt – vor allem im violinenrot holzgetäfelten Saal, den rund 2500 geladene Gäste aber auch Eltern und Verwandte der kommenden „Etoiles“, der zukünftigen Bühnenstars also, füllten. Auf der Bühne gab es einen Programmreigen mit Appettithäppchen von der Arbeit an der Stange bis Ausschnitten aus „Schwanensee“ und „Nussknacker“. Gäste, wie die Hamburger, brachten eine Neumeier-Übung („Yondering“) mit und die Londoner einen „Pas de deux“ nach Schostakowitsch. Unter die Eleven mischten sich jedoch auch Stars: Massimo Murru tanzte mit Marta Romagna oder Alina Cojocaru mit Johan Kobborg. Silvia Azzoni und Alexandre Raibko zeigten zum Beispiel einen Ausschnitts aus Neumeiers Mahler-Interpretation („Third Symphony“), der Ovationen auslöste.
Es gab jedoch kein Halten mehr, als zum Schlussapplaus alle, aber auch alle rund 100 Eleven der Scala-Ballettschule im Kostüm auf die Bühne strömten. Und noch durch den geschlossenen Vorhang hörte man später die Jubelschreie, der Jugendlichen, die ihre Gäste, ihre Lehrer, und vor allem sich selbst feierten. 190 Jahre ist es also her, als 1812/13 angeblich auf Napoleons Anweisung eine Schule an dem Teatro alla Scala eingerichtet wurde, um den steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Tänzern nachzukommen. Die Scala hatte bereits 35 Jahre zuvor mit einem Salieri-Ballett ihre glorreiche Bühnengeschichte begonnen. Der erste Leiter war natürlich ein Franzose.
90 Prozent der Abgänger finden eine Arbeit
Heute führt Anna Maria Prina die Schule – und das bereits seit 29 Jahren -, auf der sie selbst gelernt hat. Vor hundertfünfzig Jahren wurde neben dem Ballettunterricht auch einen „Schreibkurs“ eingerichtet – Analphabetismus gehörte zum traurigen Los der Mehrheit. Heute schließen die Jugendlichen in Mailand ihre Schule mit der mittleren Reife oder dem Abitur ab. Rund 90 Prozent der Abgänger finden Arbeit in der Szene, wenn auch nur jeweils wenige nach einer Probezeit vom Scalaballett übernommen werden.
Aber wenn man Anna Maria Prina glaubt, reift gerade bei den Männer ein „vielversprechender Jahrgang“ heran. Unter ihrer Leitung haben jetzt auch Techniken des Gegenwartstanzes Platz im Unterricht gefunden. Was, wie man im Programmheft der Galaaufführung lesen kann, „vor zwanzig Jahren noch undenkbar gewesen wäre.“ Ein kleiner Hinweis darauf, dass Scala-Schule und Scala-Ballett etwas den Anschluss an die europäische Spitze verloren hatten. Der wird jetzt unter dem neuen Ballettdirektor Frédéric Olivieri (einem Schüler von John Neumeier) erfolgreich wieder hergestellt.
Vom spindeldürren Kind zum Weltstar
Carla Fracci, die letzte wirkliche Diva des italienischen Balletts, ist natürlich auch eine Absolventin der Scuola di Ballo. Die schmächte Tochter eines Mailänder Straßenbahnfahrers wurde in den vierziger Jahren als Letzte ihres Jahrgangs eigentlich nur gnadenhalber aufgenommen, weil sie so ein „süßes Gesicht“ hatte. Aus dem spindeldürren Kind wurde dann ein Weltstar, und Rudolf Nureyew wählte „la Fracci“ zur Lieblingspartnerin.
Etwas weniger erfolgreich verlief ihre spätere Karriere als Choreographin und Ballettchefin. Heute steht Carla Fracci dem Ballett der römischen Oper als künstlerische Leiterin vor, nachdem man ihr in Mailand bei der Scala etwas unsanft den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. In einem Brief an den Corriere della Sera giftete die Diva nun, dass sie (und auch die Leitung der neapolitanischen Ballettschule am Teatro San Carlo) nicht einmal eine Einladung zur Gala bekommen hätten. So löst nicht jedes Jubiläum bei jedem Jubel aus. Aber spätestens in zehn Jahren wird man diese Schmach wieder wettmachen können: dann steht die Gala zum 200. Geburtstag auf dem Programm.