LASST MICH INS OFFENE, FREUNDE!


Briefe aus der Quarantäne (13 und Schluss):  Die Schwalben sind da, Träume an frischer Luft, Bassani und Bella Ciao auf dem Balkon

© Cluverius

Was tun, wenn alles vorbei ist? Bis dahin ein Sehnsuchtsbild

Mailand (17. April) – Freitag nach Ostern, der vierzigste Tag im Ausnahmezustand. Zu Zeiten der Pest hätte jetzt die Quarantäne geendet. Doch bei Corona muss ich mich weiterhin mit minimalen Freigängen zufrieden geben. Immerhin heute Morgen, beim verlängerten Rückweg vom Zeitungskiosk, haben mir die Zeitläufe und das herrliche Wetter ein Geburtstagsgeschenk gemacht: die Schwalben sind zurück! Hoch oben am Himmel schossen sie an der Ecke zur Via Settala durch die Luft, gut zu erkennen am gegabelten Schwanz. Bald werden sie unter den Dachüberständen ihre Nester beziehen und mit Sri-Rufen nach Futter für den Nachwuchs jagen.  Derweil bleibt die Lombardei – die „Schwester Schwabens“ nennt Hölderlin sie – mit bis heute 11.600 Toten die am stärksten betroffene Region Europas. Gestern starben wieder 231 Menschen.

40 Tage mehr oder weniger eingesperrt. Man darf sich – eigentlich – nicht einmal auf die Bank des kleinen Falcone und Borsellino gewidmeten Garten an der Via Benedetto Marcello setzen, wo heute Früh das frisch geschnittene Gras duftete. Wenn das alles hier vorbei ist, dann, ja was machen wir dann zuerst? Zuerst, weiß ich nicht genau, aber kreuz und quer gedacht: einfach raus, um die Kinder zu sehen, ziellos durch die Stadt laufen, mit Freunden im Gartenlokal Risotto essen und Rotwein trinken, einen Tagesausflug ans Meer machen, ins Kino, ins Theater gehen, im Schwimmbad wieder fit werden, Musik live hören.

Von Övelgönne nach Teufelsbrück

Und reisen, mit der Eisenbahn, auf nach Urbino, Rom, Neapel. Mit der Fähre nach Sardinien. Und überhaupt nach Deutschland zur Mutter, die nicht aus ihrem Altenheim bei Nürnberg kann, weil keiner zu ihr rein darf, um den Rollstuhl zu schieben. Ob die Deutschen in diesem Jahr noch jemanden aus Mailand einreisen lassen? Ein Spaziergang an der Elbe von Övelgönne nach Teufelsbrück – das wird vermutlich länger ein Traum bleiben. Lasst mich ins Offene, Freunde!

Doch das sind irgendwie egoistische Wachträume, angesichts einer Zukunft, die bis zum Fund eines Impfstoffes von Reglementierungen geprägt sein wird. Wir werden noch länger nicht nur am Supermarkt Schlange stehen. Oder neue Techniken nutzen: Die Esselunga startet jetzt eine App, bei der man sich den genauen Zeitpunkt zum Einkaufen geben lassen und damit die reale Schlange vor dem Laden überspringen kann. Mal sehen, ob es funktioniert, oder ob sich nicht im Internet eine virtuelle Schlange bilden wird.

Ich lese, dass in Spanien Luis Sepúlveda gestorben ist. Und das vor genau 20 Jahren Giorgio Bassani starb. Ein großer Schriftsteller, dessen „Ferrareser Geschichten“ mir ans Herz gewachsen sind. Ein Intellektueller, der sich als Mitbegründer von „Italia Nostra“ mit aller Kraft für den Erhalt des natürlichen und kulturellen Erbes Italien eingesetzt hatte.

Die Würde Italiens

Demonstrationen sind in Italien zurzeit nicht erlaubt. Am 25. April, dem Nationalfeiertag der Befreiung vom Faschismus und deutscher Besatzung, werden die Plätze leer bleiben. Die Italiener – jedenfalls diejenigen, die die aus Widerstand und Kriegserfahrung gewonnen Werte noch für zeitgemäß halten – werden am Sonnabend in einer Woche auf den Balkon treten und um 15 Uhr „Bella Ciao“ singen. Am 25. April 1945, vor 75 Jahren also, zogen Einheiten der Widerstandskämpfer unter dem Jubel der Bevölkerung in Mailand ein, nachdem die Wehrmacht abgezogen war. Die Partisanen haben die Krieg nicht militärisch gegen die Deutschen gewonnen, das haben die Alliierten getan. Aber sie haben unter Einsatz von Leben die Würde des Landes verteidigt und die Grundlage für ein demokratisches Italien gelegt.

Es sind Tage und Wochen, in denen viele Gedanken und Fragen ungeordnet durch den Kopf gehen. Was ist mit der europäischen Solidarität? Wird das konfuse politische Management der Region Lombardei durch eine Regierung unter Führung der Lega Folgen haben? Werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, die das Massensterben in den Altenheimen zumindest fahrlässig mitverschuldet haben? Welche Lehren werden für das Gesundheitssystem gerade hier in der Lombardei gezogen, wo höchster medizinischer Standart auf fragwürdige Gewinnorientierung der Einrichtungen stößt und bislang das private Interesse vor dem öffentlichen rangierte?

De’ miei bollenti spiriti

Und wie gehen wir jetzt mit Corona in der sogenannten zweiten Phase ab Mai oder Juni um? Eine ganze Gesellschaft kann nicht wie ein Krankenhaus organisiert werden. Die Stimmen der Virologen muss man hören, ernst nehmen, sorgfältig abwägen und prüfen. Doch Demokratie kann nicht durch „Virolokratie“ ausgesetzt werden. Es darf keine Diktatur der Naturwissenschaft geben, die einer politischen Diktatur den Weg bereiten würde. Man muss notfalls Risiken beim Kampf gegen die Seuche eingehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, an ihr muss man auch Ausmaß und Dauer der Maßnahmen zur Einschränkungen der Freiheitsrechte messen.

Schlusswort: 40 Tage sind genug. Für mich gilt, weiter aus Mailand und Italien zu berichten, aber wieder sachbezogen wie vorher und ohne diese persönlich gefärbte Form von Briefen. Ich bitte um Nachsicht, wenn der eine oder andere (und besonders dieser letzte) Brief länger geworden ist, als zumutbar. Zum Ende aber noch ein persönlicher Hinweis: Ich gehe heute Abend nach Palermo – auch so eine Sehnsuchtsstadt von mir – ins Teatro Massimo. Und sehe mir die „Traviata“ von 2012 an (Dirigent Carlo Rizzi, Regie Henning Brockhaus) – natürlich im streaming (aber nur heute am 17. April)!

ENDE