Mailand und die Lombardei


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Il Duomo – das Wahrzeichen der Stadt

Annäherung an eine Metropole, die ihre
industrielle Vergangenheit abgeschüttelt hat

Unsere Städte verändern sich, wachsen über sich hinaus und urbanisieren das Umland. Dann ziehen sie mit ihren Arbeitsplätzen und Dienstleistungen die Menschen aus den Peripherien wieder an, die sie vorher aus ihren Zentren vertrieben haben. Sie wirken wie große Lungen, die morgens Pendler ein- und abends wieder ausatmen. In Italien gibt es dafür viele Beispiele, aber keine Stadt spiegelt diesen Prozess so sinnfällig wider wie Mailand.

Die Kommune ist mit rund 1,35 Millionen Einwohner eher Mittelmaß im Spiel der europäischen Großstädte. Als „Città metropolitana“ (Stadtregion), die der Bürgermeister von Mailand nach der Auflösung der Provinzen bzw. Beschneidung ihrer Zuständigkeiten (2015) regiert, generiert sie mit mehr als 3 Millionen Einwohnern bereits kräftige Pendlerbewegungen. Der Einflussbereich ist aber größer und streckt sich als städtischer Raum besonders Richtung Westen (Varese) und Nordosten (Monza, Lecco, Bergamo) weit in die Lombardei hinein. Auf dem Gebiet leben rund 5 Millionen Menschen (von insgesamt fast 10 Millionen in der Region), die auf irgendeine Weise von der Stadt in ihrer Mitte angezogen werden, um sie herum kreisen und bei Gelegenheit den Weg in sie hinein suchen. Wer Mailand mit dem Privatwagen ansteuert oder die Regionalzüge benutzt, wird das spüren.

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Porta Garibaldi am Abend

Als der Blaumann dem Smart Casual wich

Mailand das sind Plätze und Bahnhöfe, Jugendstilhäuser und Wohnkasernen, Kirchen und Bürotürme, Gassen und Autobahnen, Einkaufszentren und historischen Ortskerne, Kanäle und Hochspannungsleitungen, Lagerhallen und Reisfelder. Bewegung und Veränderung gehören zum Alltag. Aus dem ehemaligen industriellen Herz Italiens ist heute ein riesiges Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum durchsetzt mit Immobilienunternehmen und etlichen Betrieben der Kreativwirtschaft (Mode, Möbel, Design, PR) geworden.

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Verdi-Denkmal – im Hintergrund die Hochäuser von City-Life

Die Großunternehmen der Branchen Auto (Alfa), Stahl (Falck), Gummi (Pirelli), Chemie (Montedison) haben samt ihrer Zulieferer die Produktion verlagert oder sind ganz untergegangen. Die Finanzwirtschaft gibt den Ton an. Die frühere Arbeiterstadt Mailand ist heute ein Metropole der Angestellten. Der Blaumann ist dem Smart Casual gewichen und die volkstümliche Osteria hat sich in eine raucherfreie Enoteca gewandelt. Das größte Lebensmittelgeschäft nennt sich “Eataly” – der Unternehmer stammt zwar aus dem Piemont, ist aber nirgends so erfolgreich wie im durchgestylten Palazzo eines ehemaligen Theaters vis-à-vis der frisch renovierten Porta Garibaldi.

Räume und Landschaften

Derweil ergreift die Stadt Besitz von den Räumen ihrer industriellen Vergangenheit: mit neuen Stadtvierteln (Bicocca) und Platzanlagen (Piazza Gae Aulenti/ Porta Nuova), Verwaltungssitzen (City Life) und Kultureinrichtungen (Prada), grün umrandeten Einkaufszentren (Portello) oder einem Vorstadtpark (Parco Nord). Der Landschaftsarchitekt Andreas Kipar hat ein Projekt der „raggi verdi“ – „grüne Strahlen – entwickelt. Diese Strahlen sollen das Zentrum von Mailand mit ihrem Umland verbinden und neben den schnellen Verkehrsachsen (Straße, Schiene) Wege für die langsame Bewegung (Fahrradwege, Passagen für Fußgänger) schaffen.

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Mailands Skyline im Spiegel neuer Palazzi

Landschaftlich kann man in der Region Lombardei durchaus Überraschungen erleben. Da ist der herrliche Alpenkranz, der die Lombardei vor dem Norden schützt. Da sind die prächtigen Seen, die mit ihrem mediterranen Klima einen wundervollen Kontrapunkt zur wiesigen Ebene des Pos bilden. Und gleich dahinter wellt sich gen Süden das von Reisenden (und auch von vielen Mailändern) übersehene Hügelland des Oltrepò Pavese mit ausgedehnten Weinbergen.

Oltrepò Pavese

Oltrepò Pavese

Die Feuchtgebiete der Ebene und die vielen Wasserläufe haben in vergangenen Jahrhunderten Fruchtbarkeit verbreitet (Reis, Milchwirtschaft) und Verkehrswege geschaffen. Lange bevor Schienenstränge und Autobahnen Mailand mit dem Hinterland verzahnten, sorgten Kanäle, die Navigli, für wirtschaftliche Anbindung. Und dass Mailand selbst, obgleich meilenweit vom Po entfernt, eine Stadt am Wasser war, kann man heute noch an der Darsena, am ehemaligen Hafen erkennen, wo der Naviglio Grande und der Naviglio Pavese zusammenlaufen. Ein innerer Kanalring („Cerchia dei Navigli“) wurde erst in den 1930-Jahren überdeckt und in eine Ringstraße für den Stadtverkehr verwandelt.

Ziel der Binnenwanderung

Jahrzehntelange Fremdherrschaften (Österreich, Napoleon) zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert haben funktionierende Verwaltungs- wie Infrastrukturen hinterlassen, intellektuellen Eliten gefördert und Voraussetzungen für das Wachsen einer bürgerlichenUnternehmerschicht geschaffen, die auch später im ab 1861 vereinten Italien sich sozial verpflichtet wusste.

 In den 1960- und 1970-Jahren waren Mailand und die Industriegebiete der Lombardei ein bevorzugtes Ziel der Binnenwanderung Italiens. Filme wie „Rocco und seine Brüder“ (Luchino Visconti) erzählen davon, ebenso heute ein erfolgreiches Buch des jungen Mailänder Autors Marco Balzano („Wenn ich wiederkomme“, auf Deutsch bei Diogenes). Noch immer kommen Menschen aus Sizilien und Sardinien, Kalabrien oder Kampanien in die Lombardei, die ökonomisch wichtigste Region, in der 10 Prozent der Einwohner Italiens leben, die 20 Prozent des italienischen Bruttoinlandproduktes erwirtschaften. Gegenüber früher ziehen jetzt junge Leute mit guter Ausbildung hier her oder die, die eine besondere Ausbildung suchen. In der Region gibt es angesehene Ausbildungsstätten (sieben Universitäten plus eine Kette von privaten Ausbildungsstätten etwa für Design und Mode allein in Mailand) – und die interessantesten Jobs. Dazu kommt der Standortfaktor mit Bibliotheken, Theatern, Konzertsälen, Museen, Galerien, Stiftungen, Verlagen, Festivals und vielen, vielen Buchhandlungen.copyright Cluverius Was die Kultur angeht, die hier auch für Arbeitsplätze sorgt, wird man in Italien keine lebendigere Stadt finden. Kultur auch als Imagefaktor, wie der Weltruf der Scala beweist.

Eine Ansammlung von Eremiten

Großzügig und offen sei die Hauptstadt der Lombardei, schrieb einmal der bekannte Journalist und Publizist Indro Montanelli, sie würde jeden aufnehmen, der hier arbeiten oder lernen wolle. Montanelli, der in Mailand heimisch geworden war, stammte aus der Toskana. Zur Großzügigkeit gehört auch, dass sich viele Einwohner in sozialen Freiwilligen- und Hilfsorganisationen engagieren. Der Lyriker Eugenio Montale, der in Genua geboren wurde und seine letzten Lebensjahrzehnte bis zum Tod 1981 in Mailand verbrachte, nannte die Stadt „eine enorme Ansammlung von Eremiten“, weil hier jeder denken und glauben kann, was er für richtig hält, und niemand den anderen von etwas überzeugen möchte. Aber es ist auch ein Kampf ums Überleben. Läden weiten sich aus oder schließen (besonders nach der Pandemie 2020/21), Startups schaffen den Sprung in die Gewinnzone oder gehen unter. Tempo ist angesagt und wer stehen bleibt, wird zum Verkehrshindernis. Im Stadtbild sieht man immer mehr Leute, die in Abfallkörben nach Brauchbarem suchen.

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Mailand leuchtet – Piazza Duomo am Abend

Kein Ort zum Ausspannen

Mailand ist ein Schmelztiegel verschiedenster Charaktere nicht nur Italiens geworden. Keine andere Stadt des Landes beherbergt so viele Ausländer. Auf 100 gemeldete Einwohner kommen 20 Nichtitaliener (in der Lombardei sind es 13 Ausländer auf 100 Einwohner). Angeblich werden in der Stadt 155 Sprachen gesprochen. Da verbieten sich allgemeine Aussagen über den typischen Charakter „der“ Mailänder eigentlich von selbst. Zumal Traditionen heute mehr denn je infrage gestellt werden. Und Angst vor Überfremdung vor allem im Hinterland hat einer kleinbürgerlichen und fremdenfeindlichen Partei wie der Lega Nord viele Wählerstimmen zugeführt.

Nein, das ist kein Ort zum Ausspannen. In Mailand wird man, ganz im Gegenteil unter Spannung gesetzt. Wer das lebendige, kreative Italien kennenlernen will, wer Anregungen, neue Gedanken sucht und ein Umfeld, wo er sie umsetzen kann, der ist hier richtig. In der Hoffnung, dass vielleicht morgen der große Coup oder zumindest der Durchbruch gelingen möge. Es ist heute eine Stadt mit einer positiven Grundstimmung.

Reinigungsunternehmen Hoffnung

Alberto Savinio (1891–1952) ist das Pseudonym von Andrea de Chirico, dem jüngeren Bruder von Giorgio de Chirico. Wie sein Bruder machte sich Savinio einen Namen als avantgardistischer Maler von fantasievollen, teilweise surrealistischen Werken, wie sie etwa im Museo del Novecento gleich neben dem Palazzo Reale am Domplatz ausgestellt sind. Aber er war auch Musiker und Autor von Essays und Erzählungen. In den 1940er-Jahren schrieb er ein Buch über Mailand, wie man es sich geistreicher kaum vorstellen kann. 1943 sollte es in Druck gehen. Doch dann zerstörten Bombenangriffe der Alliierten im August des Jahres das Antlitz dieser Stadt. Rund 3200 Tonnen Sprengladungen verwüsteten weite Teile des Zentrums, 2000 Menschen starben. Keine italienische Stadt wurde im Zentrum so zerstört wie Mailand: von der Scala bis zur Galleria, von San Fedele bis Sant’Ambrogio bot sie eine geisterhafte Ruinenlandschaft. Savinio wurde sich bewusst, dass er das Porträt Mailands „von vorher“ geschrieben hatte. „Am ersten Tag sah ich Mailand vom Tode ‚besudeltʻ. Dann senkte sich die Nacht herab und mit ihr ein gespenstisches Schweigen.“

August 1943 Piazza Fontana

August 1943 Piazza Fontana

Und so hängte er Tagebuchnotizen an das Buch an. Am Schluss heißt es: „Ich wandere zwischen den Ruinen Mailands umher. Warum verspüre ich diese Erregung? Ich sollte traurig sein, aber stattdessen sprühe ich vor Freude. Warum? Ich spüre, dass aus diesem Tod neues Leben erstehen wird. Ich spüre, dass aus diesen Ruinen eine stärkere, reichere, schönere Stadt erstehen wird. Über einer Haustür in der Via Brera, die die Nummer 30 trägt, dieses Schild: Impresa Pulizia Speranza – ‚Reinigungsunternehmen Hoffnung’. Was hinzufügen? Es ist alles gesagt.“

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Arco della Pace – vom Siegestor zum Friedensbogen

Daten, Zahlen und Statistisches

In Mailand leben rund 1,39 Millionen Menschen (Stand Ende 2020). Die Regionalhauptstadt der Lombardei ist der Einwohnerzahl nach die zweitgrößte Stadt Italiens hinter Rom. In Europa nimmt sie die 13. Stelle ein. Die Stadt weist eine Einwohnerdichte von 7500 Menschen pro Quadratkilometer auf und wird darin in Italien nur von Neapel übertroffen. Zum Vergleich: In München, das etwa ebenso viele Einwohner hat, leben nur 4500 pro Quadratkilometer. In Rom, wo fast doppelt so viele Menschen wohnen, sind es sogar nur knapp 2000 pro Quadratkilometer. Es geht also eng zu in Mailand.

Die Lombardei ist der Fläche nach die viertgrößte der 20 italienischen Regionen (hinter Sizilien, Piemont, Sardinien). Der Bevölkerung nach liegt sie mit 9,9 Millionen Einwohnern aber einsam an der Spitze – das sind mehr Menschen, als in ganz Österreich (8,5 Millionen) leben. Die wichtigsten Orte neben Mailand sind Brescia (193.000 Einwohner), Monza (123.000), Bergamo (115.000) und Como (85.000), die zugleich Hauptorte der gleichnamigen Provinzen (Kreise) sind. Dazu kommen noch die Provinzen Cremona, Lecco, Lodi, Mantua, Pavia, Sondrio und Varese. Die Lombardei grenzt im Norden an die Schweizer Kantone Tessin und Graubünden, im Osten an die italienischen Regionen Südtirol/Trentino und Venetien, im Süden an die Emilia-Romagna und im Westen an das Piemont.

Seen und Flüsse
Landschaftlich wird sie von den Alpen im Norden (die höchste Erhebung ist der Piz Bernina mit 4000 Meter), im Süden vom Po (auf 260 Kilometer Länge) beziehungsweise von dem Apennin des Oltrepò Pavese begrenzt. 40 Prozent der Oberfläche zählen zum Gebirgsland, 47 Prozent zur Ebene und 13 Prozent zum Hügelland. Dem Po laufen von Norden Flüsse wie Ticino, Lambro, Adda (mit 313 Kilometer der längste Fluss der Lombardei), Serio, Oglio, Chiese oder Mincio zu.

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Der Lago di Como – Blick auf Bellagio

Die Lombardei umschließt rund 600 Kilometer Seeufer und bildet damit auch die größte Seenregion Italiens und des Alpenraumes. Dazu zählen unter anderem der Lago Maggiore (West- und Nordufer grenzen an das Piemont beziehungsweise an die Schweiz), der Lago di Lugano (zusammen mit der Schweiz), der Lago di Varese, der Lago di Como, der Lago d’Iseo und der Lago di Garda (Nord- und Ostufer gehören zum Trentino beziehungsweise zu Venetien).

Das Klima der Ebene ist kühl und manchmal nebelig im Winter sowie feuchtwarm bis heiß im Sommer. In den Gebirgszonen geht es kalt im Winter und frischwarm im Sommer zu. Um die Seen hat sich dagegen ein einzigartiges Mikroklima gebildet, das den Lebensraum für eine mediterrane Pflanzenwelt (Palmen, Oliven, Zitronen) schafft und prächtige Naturanlagen hervorgebracht hat.

Arbeit und Finanzen
Mailand und die Lombardei sind der wirtschaftliche Motor Italiens. Hier hat rund die Hälfte der 200 größten Unternehmen seinen Sitz und finden die wichtigsten Messen statt. Die Mailänder Börse bestimmt das finanzielle Klima des Landes. Bekannte Hersteller der Sparten Mode, Möbelbau und Design (Armani, Cassina, Alessi) prägen weltweit das Geschehen und sichern die Existenz einer Kette von Zulieferern. Die meisten Verlage, Werbeagenturen, Marktforschungsinstitute sind wie die wichtigsten Internetfirmen und privaten Fernsehstationen in und um Mailand zu finden. Nach einer Untersuchung der lokalen Handelskammer sind ebenso ein Fünftel aller privaten Kulturunternehmen des Landes in der Lombardei angesiedelt, bei denen sogar 30 Prozent aller Beschäftigten des Sektors Arbeit finden. Und – für viele überraschend – die Lombardei ist auch der größte landwirtschaftliche Produzent Italiens (und sogar der zweitgrößte unter den Regionen der EU).

Soviel Aktivitäten schlagen sich in (einem jedenfalls durchschnittlichen) Reichtum wider: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahr 2018 bei 38.600 Euro (Italien: 29.200 Euro, EU: 30.200 Euro) und ist damit dem von Baden-Württemberg oder Bayern vergleichbar. Die Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2020 5,0 Prozent (Italien 9,3 Prozent).