MIT LACHENDEN AUGEN


Mailand öffnet sich vorsichtig nach dem Lockdown,  farbtrunken wandert man durch Straßen und Parks – ein Nachtrag zu den Briefen aus der Quarantäne

© Cluverius

Eine erste wiedergefundene Freiheit – Giardini Pubblici in Mailand am Tag eins der vorsichtigen Öffnung nach sechs Wochen Quarantäne

Mailand (5. Mai) – Alles neu macht der Mai. Seit gestern, Montag 4.5., dürfen wir wieder durch die Stadt laufen – und nicht nur 200 Meter von der Haustür entfernt. Auch die Parks wurden wieder geöffnet. Eine Symphonie in Grün breitet sich vor blauem Himmel aus. Dunkelgrün die Kastanien, die bereits ihre weißen Blütenstände aufgesetzt haben, die wie Zwergtannen auf den Ästen thronen. Buschwerk glänzt zwischen Zartgrün und Blaugrün. Der Hunde-Campus in den Giardini Publici leuchtet nach sechs Wochen „ohne“ in einem nie gesehenen satten Wiesengrün. Gras sprießt auf vielen Wegen. Grünlich schimmernd das Brunnenwasser vor der Villa Dugnani. Im neu angelegten Park an der Porta Nuova, der sogenannten Biblioteca degli Alberi, breiten sich Blumenfelder aus, in denen Iris und Mohn, Kornblumen und Löwenzahn  (gewollt) wild Gelb, Rot, Blau, Weiß durch einander blühen. Farbtrunken wandert man durch die Stadt, so als hätte man sie nie gesehen. Und hinter den Masken der Passanten lachen die Augen.

Ja, die Gesichtsmasken sind hier in der Lombardei noch überall Pflicht, in Innenräumen wie beim Spaziergehen auf der Straße und im Park – ausgenommen nur die Radfahrer und Jogger solange sie anderen nicht zu nahe kommen – , und in den öffentlichen Verkehrsmitteln sowieso (hier sind sogar Handschuhe vorgeschrieben). So lernt man, beim Lächeln in die Augen zu gucken und verstärkt mit den Augen zu lächeln. Aber vor den Bars lachen immer wieder ganze Gesichter. Die Kaffeebars  sind auch wieder geöffnet, doch dürfen sie den Caffè nur zum Mitnehmen anbieten, als „da asporto“, wie es heißt, – „to go“ hat sich hier trotz vieler Anglizismen in den Ladenstraßen („open soon“, „we like people, not labels“, „sale“ etc) noch nicht durchgesetzt. Also, man holt sich den Mini-Pappbecher aus der Bar – die kleinen bieten ihn in der offenen Tür an – und dann draußen, zum Trinken, schiebt man natürlich die Maske unters Kinn. Klar doch, Abstand halten zum Nächsten, zwei Meter bitte. Aber trotzdem: man blickt in lachende Gesichter und wechselt scherzend Sprüche.

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Entdeckung Mitten in Mailand – Blumenwiese vor dem Bosco-Verticale-Turm

Lachende Augen begrüßen einen auch in der unabhängigen Buchhandlung in der Via Tadino, die seit heute, Dienstag, wieder geöffnet ist. Aber hier sind die Masken vorschriftsmäßig bis über die Nasen gezogen. Und bei Eintreten spritzt man sich Desinfektionsmittel auf die Hände. Immer nur zwei Käufer dürfen sich in der Handlung aufhalten. So bildet sich vor der Ladentür eine kleine,  hier nie erlebte Schlange. Aber gegenüber der Warterei vor dem Supermarkt – die inzwischen durch die App „ufirst“ entschieden verkürzt werden kann – ist die Schlange vorm Buchladen ein Kulturereignis.

Wie viele Bäume hat die Stadt?

Noch ist nicht alles gut. Mindestens zwei Wochen noch bis die Museen wieder aufmachen dürfen, vielleicht. In vier Wochen kann man sich dann auch wieder in ein Restaurant setzen, vielleicht. Solange kann, wer will, sich das Essen bestellen und nach Hause bringen lassen. Irgendwann wird man auch wieder die Regionalgrenze, für die man heute noch eine Ausnahmegenehmigung benötigt, überqueren dürfen, vielleicht. Die Stadt, die Hast, der Lärm, der Autostrom, der Kaufrausch, all das wird sich ändern, vielleicht – vielleicht auch nicht. Aber dieses ungewohnte Freiheitsgefühl, gestern, heute und morgen wohl noch auch, das ist ganz Gegenwart. Das ist ein neues Mailand. Ich habe gar nicht gewusst, dass es so viele Bäume gibt. Irgendwie muss man dem Lockdown dankbar sein. Ist das nicht verrückt?

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Was man wieder darf – und was noch nicht