OHNE DIE GESCHICHTE AUSZULÖSCHEN


Das Erdbeben in Mittelitalien hat eine alte Kulturlandschaft tief verletzt. Jetzt diskutiert man den Wiederaufbau 

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Eine Kultur aus den Fugen – Zerstörtes Kruzifix in Accumoli (Santa Maria della Misericordia)


Ascoli Piceno – In den 50 vom Erdbeben in Mittelitalien betroffenen Ortschaften sind auch viele historische Bauten zerstört oder schwer beschädigt worden. Nach einer ersten Ortsbesichtigung haben Fachleute des Kulturministeriums 293 Objekte (Kirchen, Palazzi, Monumente) ausgemacht, die besonders bedroht sind – soweit sie überhaupt noch stehen. Schwer getroffen wurden etwa in Amatrice die spätgotische Kirche Sant’Agostino mit Fresken aus dem 15. und 16. Jahrhundert, das städtische Museum und die Torre Civica.

Ein Trümmerhaufen

Zerstört sind Gotteshäuser wie San Giovanni oder San Giuseppe aus der Renaissance. In Arquata del Tronto ist von der Kirche Santa Croce aus dem 12. Jahrhundert nur noch ein Trümmerhaufen geblieben, in Ascoli Piceno wurde unter anderem das Gebäude zerstört, in dem das archäologische Museum untergebracht war. Eine alte Kulturlandschaft an den Grenzen der Regionen Umbrien, Latium und den Marken ist tief verletzt.

Nachdem jetzt die erste Phase mit der Rettung von Überlebenden und Bergung der Opfer zum Abschluss gekommen ist, können Spezialeinheiten mit der Bergung von Kunstwerken und den ersten Sicherungsmaßnahmen an historischen Bauten beginnen. Die Arbeiten werden dabei immer wieder von Nachbeben gefährdet.  Geborgene Ausstellungsstücke, Kunstwerke und Dokumente sollen in Kasernen der Ordnungskräfte zwischengelagert werden, bevor man über mögliche Restaurierungen nachdenken kann. Es wird noch viele Tage, wenn nicht Wochen dauern, um einen kompletten Überblick über das Ausmaß der Zerstörung zu bekommen.

Wiederaufbau in den alten Formen

Kulturminister Dario Franceschini hat den Wiederaufbau der historischen Orte, in denen rund 3000 Menschen obdachlos geworden sind, zur wichtigsten Aufgabe der kommenden Jahre erklärt. Der Architekt Renzo Piano spricht von einer „zivilen, politischen und moralischen Pflicht“, den Menschen ihre Heimat zurück zu geben, „ohne die Geschichte auszulöschen“. Das bedeute ein Wiederaufbau an Ort und Stelle in den alten Formen.

In einem Interview mit dem Corriere della Sera fordert Renzo Piano „keine übereilten Notstandsmaßnahmen“, sondern ein „langsames, planvolles“ Herangehen. Die Bevölkerung sollte derweil in Siedlungen aus Holzhäusern untergebracht werden, die anschließend recykelt werden können. Als erstes müsse man Schulen und Krankenhäuser nach erdbebensicheren Kriterien wieder errichten oder entsprechend umbauen. Langfristig müssten auch alle Privatbauten in diesem Gebiet wie in allen Räumen Italiens, die von Beben bedroht sind, gesichert werden. Steuererleichtungen und andere Maßnahmen könnten dabei die Eigentümer entlasten.

Amatriciana solidale“

Die Soziologin Chiara Sareceno beklagt, dass der Staat Hausbesitzer zwingen könne, die Farbe der Aussenwände zu ändern. Oder darüber entscheidet, ob Wäsche aus den Fenstern zum Trocknen gehängt werden dürfe oder nicht. Aber er kann die Besitzer nicht zwingen, bestehende Gebäude erdbebensicher umzurüsten. Für Renzo Piano gibt es dazu keine Alternative, auch wenn das eine Jahrhundertaufgabe sei: „So etwas macht man nicht in ein paar Jahren. Das dauert zwei Generationen. Oder auch mehr.“ Auf der anderen Seite „denkt auch die Natur in langen Zeiträumen“. Wichtig sei, jetzt endlich anzufangen. Und nicht nur da, wo gerade die Erde gebebt hat.

Viele Kulturschaffende zeigen sich solidarisch mit der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. Am letzten Wochenende im August hat es erste Benefizkonzerte gegeben. Die italienischen Museen haben in einer Aktion #museums4italy die Einnahmen des vergangenen Sonntags fuer den Wiederaufbau gespendet. Dabei kamen rund 610 Tausend Euro zusammen. Carlo Petrini von der Vereinigung Slow Food hat italienische Restaurants in aller Welt aufgefordert, die „Spaghetti amatriciana“, eine lokale Pastaspezialität mit dem typischen Speck-Tomaten-Sugo, auf die Speisekarte zu setzen. Und einen Teil der Einnahmen dieser „amatriciana solidale“ für den Wiederaufbau zu spenden.

Zu entdecken: Cola dell’Amatrice

Der Kunstkritiker Vittorio Sgarbi will in Zusammenarbeit mit der Region Lombardei in einer Ausstellung an mehreren Orten ab Dezember an den Maler und Architekten Nicola Filotesio  (Amatrice 1480 – Ascoli Piceno 1547) erinnern, der unter dem Namen Cola dell’Amatrice bekannt gworden ist. In Mailand (Museo Bagatti Valsecchi), Mantua (Palazzo Te), L’Aquila (Basilica di San Bernardino) und in Ascoli Piceno (Pinacoteca Civica) sollen Arbeiten eines Künstlers  gezeigt werden, der nach Sgarbis Worten „weder unbedeutend, noch eine Randfigur gewesen war“, sondern von vielen aus dem Bewusstsein verdrängt worden sei. Ihn wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen soll den „Willen zum Wiederaufbau“ unterstützen. Die Stadt Amatrice hatte dem Sohn der Stadt ein Denkmal gewidmet. Es wurde durch das Erdbeben zerstört.