Carlo Rovellis Lektionen über Physik


Mailand. Noch immer sind Natur- und Geisteswissenschaften zwei von einander getrennte Welten. Und die Bewohner der einen kümmern sich in der Regel wenig um das, was auf dem anderen Planeten geschieht. Naturwissenschaft und Technik, obwohl sie im Zeitalter der Informatik und der digitalen Revolution Gesellschaft und Umwelt radikal verändern, bleiben vielen Menschen fremd. Die theoretische Physik etwa erscheint als ein Buch mit sieben Siegeln. Einsteins Relativitätstheorie ist bereits einhundert Jahre alt, aber was sagt sie genau aus? Und was will eigentlich die Quantentheorie belegen mit welchen Folgen? Was sind denn nun Quarks? Und welchen Gesetzen folgt die Architektur des Kosmos?

Der Italiener Carlo Rovelli, Professor für Theoretische Physik an der Universität Marseille, hat in einer Artikelfolge für das Mailänder Wirtschaftsblatt „il Sole 24 ore“ sieben kurze allgemeinverständliche Lektionen über Physik geschrieben, die im vergangenen Jahr als schmales Buch erschienen sind, das noch heute ein Bestseller in Italien ist. Inzwischen wurde es in viele Sprachen übersetzt und liegt seit wenigen Wochen auch auf Deutsch vor. Der Leser, der nicht vom Fach ist, lässt sich von Rovellis Einführungen faszinieren, der die Revolutionen in der Physik des 20. Jahrhunderts entmythologisiert, indem er sie verständlich macht. Aber ebenso verdeutlicht, dass jedem Wissen ein neues Nichtwissen folgt, und Fragen und Rätsel uns weiter vorantreiben. Dabei ist ein gewisses Maß von Anstrengung nötig, aber das ist ja in der Geisteswissenschaft und den schönen Künsten nicht anders. Rovelli behauptet sogar, dass es weniger Mühe mache, eine Formel der Riemann’schen Mathematik zu entschlüsseln, „als man braucht, um die seltene Schönheit eines der letzten Beethoven-Quartette hören zu können.“

Die Schönheit der Wissenschaften (und der Welt)
Die ersten vier Lektionen beschäftigen sich vor allem mit den Theorien, die letzten drei mit ihren teilweise umstrittenen Interpretationen. Fachleute runzeln dabei die Stirn über Rovellis Positionen. Von Nichtfachseite kann und will man da nicht mitreden. Aber darum geht es ja gerade in diesem Büchlein: es will die Grenzen durchlässig machen. Und ob Rovelli hier seine eigenen Hypothesen etwa über das Problem der Unvereinbarkeit einiger Aspekte der Relativitätstheorie mit der Quantentheorie verbreitet, interessiert nur am Rande. Wichtig ist, diese kleine Schrift macht einfach Lust, einen anderen Planeten zu besuchen, um festzustellen, dass es doch nur eine Welt als Ganzes gibt. Unser Wissen über diese Welt wächst und „lernend stoßen wir an Grenzen“, schreibt der Autor. Kosmos, Zeit, schwarze Löcher und das Funktionieren des eigenen Gehirns: „Hier, an den Grenzen unseres Wissens, wo sich das Meer unseres Nichtwissens vor uns auftut, leuchtet das Geheimnis der Welt, die Schönheit der Welt, und es verschlägt uns den Atem.“U1_978-3-498-05804-3.indd

Carlo Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik. Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 96 Seiten, 10 Euro