VERWINKELTE GÄNGE


500 Jahre Ghetto in Venedig (2): Eine Abschließung, die keine
Ausgrenzung war, denn man brauchte die Juden

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Campo del Ghetto Nuovo 500 Jahre danach

Venedig – Das ist ein ungewöhnlicher Platz für diese Stadt. Er ist merkwürdig trapezartig geformt, hier stehen Bäume, und um sie herum spielen Kinder. Häuser wachsen an einer Seite hoch in den Himmel wie sonst in keinem anderen Viertel, aber auf der Seite gegenüber bleiben sie ganz flach. Und keine Kirche weit und breit. Jedenfalls keine christliche. Dafür gibt es gleich drei Synagogen, denn dies ist der Campo del Ghetto Nuovo, der zentrale Platz des Judenviertels von Venedig. Eine der Synagogen erkennt man an ihrer Fensterreihung, fünf schlanke Fenster statt wie bei ähnlichen venezianischen Palästen vier. Fünf Fenster, die die fünf Bücher der Tora symbolisieren.

Das erzählt Paolo Navarro Dina. Der Publizist und Sprecher der jüdischen Gemeinde Venedigs führt in diesen Wochen häufiger als sonst Gäste auf den Campo, wo auch ein Restaurant koschere Kost anbietet. Vor 500 Jahren wurde hier das Ghetto eingerichtet, das erste in sich geschlossene Judenviertel der neueren Geschichte überhaupt. Die Glocken der Kirchen von Venedig sollen geläutet haben, als am 29. März 1516 ein Beschluss des Senats der „Serenissima Repubblica“ verkündet wurde. Alle Personen jüdischen Glaubens, welcher Nationalität auch immer, mussten damals Wohnsitz auf einem abgelegenen Gebiet am westlichen Rand der Lagunenstadt nehmen, das als Ghetto Nuovo bekannt war.

Die Venezianer fragten: „Schaffen wir das?“

Für die Stadtrepublik waren das schwere Zeiten um die Wende zum 16. Jahrhundert herum. In Norditalien herrschten kriegerische Zustände, französische und spanische Truppen zogen durchs Land. In wechselnden Koalitionen bedrohten sie auch das Hinterland von Venedig. Viele Menschen flohen in die durch ihre Lage in der Lagune sicher geglaubte Stadt, darunter auch zahlreiche Juden. Unter den rund 115.000 Einwohnern waren das Fremde nicht nur von ihrem Herkommen, sondern auch von ihrem Glauben. Gleichsam Ausgestoßene. Anders als den Christen war ihnen Zinshandel und Pfandleihe erlaubt. Wie umgehen mit den vielen Flüchtlingen? Die Venezianer fragten sich: Schaffen wir das? Unmut gegenüber Juden machte sich breit auch wegen willkürlich hoch angesetzter Zinssätze, die diese hier und da gefordert hatten. Ein erster Versuch, ihnen zwangsweise ein Wohngebiet zuzuweisen und ihre Aktivitäten besser zu kontrollieren, war 1515 noch im Senat mit einer knappen Mehrheit abgelehnt worden.

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Auch eine Touristenattraktion – der Campo del Ghetto Nuovo

Doch dann fiel 1516 bei einer erneuten Abstimmung unter der Leitung des Dogen Leonardo Loredan die Entscheidung mit 130 Jastimmen für die Einrichtung eines Judenviertels. 44 Senatoren votierten mit Nein, 8 enthielten sich. Der Name Ghetto, der von hier um die Welt gegangen ist, leitet sich von dem venezianischen Begriff des Kupfergießens ab. In den Gebieten des Ghetto Vecchio und im Ghetto Nuovo lagen früher die alten und neuen Gießereien der Stadt, die aber Anfang des 16. Jahrhunderts bereits still gelegt waren. Das damals abgelegene Gebiet – heute ist es durch die Nähe des Bahnhofs kräftig aufgewertet – wurde von Kanälen umflossen und war nur über zwei Brücken zu erreichen. So konnten die Zugänge zum neuen Viertel, die nachts ganz verschlossen wurden, leicht kontrolliert werden. Die Juden durften das außerdem zu den Kanälen mit einer Mauer umschlossene Gebiet nur tagsüber und mit entsprechender Kennzeichnung an der Kleidung verlassen.

„Das klingt schrecklich in unserer Ohren.“

„Das klingt schrecklich in unseren Ohren“, sagt der Historiker Romedio Schmitz-Esser. Zumal man gemeinhin den Begriff „Ghetto“ aus dem Verlauf der Geschichte und besonders aus der Rezeption im 20. Jahrhundert beurteilen würde. Aber, so fügt der Leiter des Deutschen Studienzentrums von Venedig hinzu, zur Zeit der Gründung sei das Ghetto auch ein Bekenntnis zum Zusammenleben gewesen. Wenn man etwa daran denke, wie Juden anderswo in Europa, etwa in Spanien, entweder zur Konversion oder zur Auswanderung gezwungen wurden. „An der Lagune versuchte man dagegen, die jüdische Gemeinschaft in die venezianischen Gesellschaft zu integrieren.“ Das Deutsche Studienzentrum, das in einem herrlichen Palazzo am Canal Grande Sitz gefunden hat, ist eine interdisziplinäre Einrichtung, die hauptsächlich von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert wird. Sie fördert seit 1972 wissenschaftliche Arbeiten und Projekte zur Geschichte und Kultur Venedigs und seiner ehemaligen Herrschaftsgebiete. Zum Beispiel auch zum Ghetto.

Eine multinationale Gesellschaft

Venedig war Anfang des 16. Jahrhunderts eine Handelsmetropole mit einer multinationalen Gesellschaft. Und nicht nur Juden wurden so „kontrolliert integriert“. In Venedig hielten sich Kaufleute aus dem deutschen Raum und aus der Türkei, aus Griechenland wie aus Armenien oder aus anderen Länder auf. Den Deutschen wurde der Fontego dei Tedeschi zugewiesen. Ein Gebäudekomplex direkt am Rialto, also nicht so abgelegen wie das Ghetto, aber trotzdem, so Schmitz-Esser, „wollte man auch die Deutschen unter Kontrolle haben.“ War doch gerade nördlich der Alpen die Reformation ausgebrochen, die man im Süden wie die Pest fürchtete. Die osmanischen Händler wiederum brachte man im Fondago dei Turchi unter. „Die Logik des Abschlusses war geradezu ein venezianisches Markenzeichen.“

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Holocaust-Mahnmal im Ghetto, Besucher

Man brauchte die Juden, denn die sich modernisierende Gesellschaft verlangten nach Geld. Beim Adel wie bei den unteren Schichten. Zumal es in Venedig keine kirchlich kontrollierten Pfandhäuser gab wie im restlichen Italien mit den sogenannte Monti di Pietà. Eine erste Flüchtlingswelle brachte vor allem aschkenasische Juden aus Nordeuropa nach Venedig. So wird die heute noch zu besichtigende älteste Synagoge am Campo del Ghetto Nuovo, die „deutsche Synagoge“ genannt. Später folgten sefardische Juden aus Südeuropa und aus dem Mittelmeerraum. Das waren vor allem Kaufleute, die gleichsam ein Handelsnetz mitbrachten. Auch davon profitierte die Kaufmannsstadt an der oberen Adria.

Das Ghetto – eine Stadt in der Stadt

Ein Daniele Rodriguez wurde von der Stadt Ende des 16. Jahrhunderts sogar beauftragt, eine Handelsniederlassung für die Serenissima im dalmatischen Split zu gründen. Und ein Jakob Sarava diente im 18. Jahrhundert als Botschafter im Amsterdam. Gefragt waren Juden auch als Ärzte. Für Krankenbesuche durften sie das Ghetto sogar nachts verlassen. Riccardo Calimani hat im Mondadori Verlag eine große historische Untersuchung mit dem Titel „Storia del Ghetto di Venezia“ herausgegeben. Seine Familie gehörte 1516 zu den ersten Bewohnern des neuen Viertels. Er sagt, man dürfe des Ghetto von Venedig eben nicht mit den Nazi-Einrichtungen des 20. Jahrhundert vergleichen. Das sei eine Stadt in der Stadt gewesen – und die Abschließung keine Ausgrenzung. Das war eine symbiotische Beziehung. Daniel Bomberg zum Beispiel, ein christlicher Drucker und Verleger aus Antwerpen stammend, gab hier an der Lagune um 1520/23 die erste gedruckte Ausgabe des Talmud heraus.

Vorbereitungen für eine Ausstellung im Palazzo Ducale

Juden konnten zu verschiedenen Gelegenheiten öffentlich mitreden. Und zwar von Anfang an. Das betont auch Donatella Calabi, die sich an der Architektur-Universität Venedig (IUAV) mit der Geschichte von Städten in der Neuzeit beschäftigt. Als sich 1515/1516 die Einrichtung eines Judenviertels abzeichnete, wollten die Behörden es zunächst auf einer Insel wie Murano einrichten. Die jüdischen Minderheit, die von einem einflussreichen Bankier vertreten wurde, lehnte das in Verhandlungen ab. Erst als man ihr das Gebiet am Ghetto Nuova anbot, das zwar abgelegen doch innerhalb des eigentlichen Stadtgebiets lag, stimmte sie zu.

Donatella Calabi steckt mitten in den Vorbereitungen für eine große Ausstellung über „Venedig, die Juden und Europa 1516-2016“ im Palazzo Ducale (19.6. bis 13.11.). Die Professorin wohnt im Herzen Venedigs unweit von Santa Maria Formosa. Von ihrer Wohnung im vierten Stock blickt man auf eine ziegelrote Dächerlandschaft, aus der die Kuppeln von San Marco herausragen. Eine atmenberaubende Aussicht. Doch die Hausherrin fühlt sich zunehmend unwohl in ihrer Heimatstadt. „Entfremdet“ durch den Tourismus und die Veränderung der Stadtökonomie mit den ewig gleichen Andenkenläden und den Glasschmuck-Geschäften, die wie Pilze aus dem Boden sprießen und Lebensmittelläden, Bäckereien oder Apotheken verdrängen. War früher alles besser mit den Fremden, die nicht als Touristen kamen, sondern als Kaufleute, Handwerker oder Pfandleiher?

Unterschiedliche Kulturen trafen aufeinander

Nun ja, im Ghetto hätte sie auch nicht wohnen wollen. Zeitweilig lebten dort über 5000 Menschen, deren Aktivitäten durch Steuern und Abgaben beträchtliche Summen in die Staatskassen der Repubblica spülten. Im kleinen Judenviertel, das man nach der Gründung nur wenig etwa um benachbarte Gassen erweitern ließ, wurde es eng. So wuchsen die Häuser für Venedig ungewöhnlich sieben, acht Stockwerke hoch und Freiflächen wurden zugebaut. Juden aus Nord-, Süd- und schließlich auch aus Osteuropa mussten auf engstem Raum miteinander auskommen. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Traditionen, unterschiedliche Verhaltensweisen prallten aufeinander. Jede Volksgruppe hatte ihre eigenen Geschäfte, Treffpunkte, Theater, Herbergen. Zeitweilig gab es kein anderes Viertel in Venedig, das so gut mit Dienstleistungsunternehmen bestückt war, berichtet Donatella Calabi.

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Restaurant der Lubawitscher

Ausdruck der Multikultur des Ghettos sind auch die fünf noch erhaltenen Synagogen der unterschiedlichen Glaubensrichtungen des Judentums. Zwei von ihnen, die „deutsche“ und die „italienische“ Synagoge kann man vom Museum aus mit einem Führer besichtigen. Der Weg führt treppauf, treppab verwinkelte Gänge entlang. Türen werden aufgeschlossen und wieder zugesperrt, Vorhänge zur Seite geschoben. Man bekommt eine Ahnung von dem verschachtelten System von Alltag und Sabbat, Glauben und Wohnen der ersten Jahrhunderte im Ghetto. Damit alle noch erhaltenen Synagogen zu besichtigen sind, bedarf es umfangreiche Restaurierungsarbeiten. Acht Millionen Euro werden gebraucht. Die jüdische Gemeinschaft hat bereits zwei Millionen auftreiben können. Dank der Propaganda von US-Stars wie Barbara Streisand und der Unterstützung etwa durch die Modedesignerin Donna Karan. Die Hilfsorganisation Venetian Hertitage hofft jetzt auch auf Diane von Fürstenberg, Steven Spielberg und den Pharmaindustriellen Michael Frost.

Das Ghetto heute

500 Jahre Ghetto: Wer heute als Tourist auf den Campo del Ghetto Nuovo kommt, glaubt sich ins 16. Jahrhundert versetzt. Ein Trugschluss. Als das Ghetto unter Napoleon 1797 aufgelöst wurde, verließen bereits die ersten Juden das Viertel. Und die Kommunalverwaltung fing an, es kräftig zu sanieren. Häuser wurden abgerissen, Plätze erweitert, Neues gebaut. Von ehemaligen Pfandleihbanken, drei alleine am zentralen Platz, ist heute nur noch die Inschrift des „Banco Rosso“ geblieben. „Das Ghetto heute stammt im wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert“, sagt Donatella Calabi. Die nahe Lage zum Bahnhof und die vielen, traditionell kleinen Wohnungen haben das sozial gemischte Viertel auch für jene interessant gemacht, die eine bezahlbare Ferienwohnung in der Lagunenstadt suchten. Doch inzwischen sind auch hier die Quadratmeterpreise in die Höhe geschossen.

Schon lange wohnen so gut wie keine Juden mehr im Ghetto. Das zeigen auch die „Stolpersteine“ an, die man über das ganze Stadtgebiet verstreut findet. Der Kölner Künstler Gunter Demnig hat zuletzt welche im Januar in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, der jüdischen Gemeinde und dem Deutschen Studienzentrum zur Erinnerung vor Wohnungen jüdischer Einwohner verlegt, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben kamen. 250 Juden aus Venedig kamen damals nicht mehr aus den Lagern zurück. Heute zählt die jüdische Gemeinde etwa 450 Mitglieder in der Lagunenstadt und auf dem Festland. Auch die Familie von Paolo Navarro Dina lebt längst in einem anderen Viertel. Dennoch ist der Campo del Ghetto Nuovo ein Zentrum für die religiösen, sozialen und kulturellen Aktivitäten der Gemeinschaft geblieben. Dazu gehören neben den Synagogen und dem Museum ein israelitischen Altersheim, die Bibliothek „Alef“ (auch mit einem Buchladen) sowie ein Informationsbüro.

Shylock und die Lubawitscher

Paolo Navarro Dino lädt Besucher zusammen mit Angehörigen der jüdischen Gemeinde zu einem Apertiv in das Kosher Restaurant Ghimel Garden. Das Gespräch dreht sich bei einem Glas Wein, Bier oder Mineralwasser um zwanglos viele Themen. Streift das negative Bild der Juden etwa mit der Figur des „Shylock“ in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Oder lässt die Fußballspiele lebendig werden, die die verschiedenen „Nationalitäten“ der jüdischen Gemeinde Venedigs noch Anfang des 20. Jahrhunderts untereinander ausgetragen haben. Später kommt auch der Rabbi Scialom Bahbout dazu. 500 Jahre Ghetto ist für ihn mehr als nur ein historisches Ereignis. Die Erinnerung versteht er auch als Warnung „vor Indifferenz, die früher zur Verfolgung geführt hat und heute neuen Rassismus wieder ermöglicht.“

Ein Thema klammert man lieber aus. Seit einigen Jahren kommen vermehrt lubawitscher Juden nach Venedig, die zwar nicht im Ghetto wohnen, dort aber ihre Gemeinschaftseinrichtungen und auch Restaurants gründen. Die aus den USA stammende extrem konservative Glaubensrichtung steht in Opposition zur traditionellen jüdische Gemeinde der Lagunenstadt. Die Lubawitscher wollen das Ghetto zum Zentrum ihrer chassidischen Lehre machen und gehen dabei recht aggressiv vor. Es beginnt mit der Kontrolle des Tourismus – das Ghetto wird von rund 100.000 Menschen im Jahr besucht – und soll mit der der jüdischen Kultur enden. In einem Artikel des Haaretz-Magazin sagt ein Mitglied der jüdischen Gemeinde Venedigs über die „chassidischen Brüder“, man habe mit offenen Armen empfangen, „was sich als Schlangen offenbart habe.“

Kontrolle in der koscheren Küche

Beim Abschied tritt Bruno Santi, der Mitinhaber und Koch des Restaurants auf und präsentiert verführerische Süßspeisen. Er erzählt mit einem freundlichen Lächeln, wie der Rabbi oder einer seiner Vertreter peinlich genau täglich das Reinheitsgebot der koscheren Küche kontrolliere. Der Koch ist selbst kein Jude. Hat es je Grund zur Klage gegeben? Von Kleinigkeiten – „Interpretationsfragen“ – abgesehen nie. Es herrsche ein Klima gegenseitiges Vertrauens, das durch die tägliche Kontrolle jedes mal aufs Neue gefestigt werde.

Es ist dunkel draußen auf dem Campo. Menschenleer liegt die Piazza abends in diesen Tagen nach Karneval. Die Fensterläden sind verschlossen, hier und da dringen Lichtschimmer nach draußen. Schemenhaft zeichnet sich ein Mahnmal hinter den Bäumen ab. Und vom benachbarten Canale degli Ormesini hört man leises Tuckern, wie von einem Motorboot, das sich langsam entfernt.

Info:http://www.veniceghetto500.org/

In gekürzter Form erschienen in der Stuttgarter Zeitung vom 27.2. und in der NZZ vom 29.3.2016
Im Deutschlandfunk widmet sich das „Kalenderblatt“ vom 29.3. dem Thema

Siehe auch auf Cluverius: 500 Jahre Ghetto (1) – ein Gespräch mit dem Historiker Romedio Schmitz-Esser vom Deutschen Studienzentrum Venedig