„WIR HABEN AUF DIE RICHTIGEN LEUTE GESETZT“


Ein Gespräch mit Aleida und Jan Assmann über ihr Balzan Forschungsprojekt „Memory in The City“ zusammen mit einer interdisziplinären Gruppe junger Wissenschaftler

© Corinna Assmann

Die Stadt als Erinnerungsraum – Aleida und Jan Assmann, u.a. Balzan Preis 2017 und Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2018, leiten ein Projekt zusammen mit jungen Wissenschaftlern aus Frankreich, Polen, Rumänien und Spanien

Mailand – Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann wurden 2017 gemeinsam mit dem Balzan Preis für Kollektives Gedächtnis ausgezeichnet. Die Internationalen Balzan Stiftung würdigte damit unter anderem die Bedeutung von zwei individuellen Oeuvres, „die das kollektive Gedächtnis als Voraussetzung von religiösen und politischen Identitätsstiftungen und Gemeinschaften präsentieren“ (- auf Cluverius siehe hier). Zum Preis gehört auch die Verpflichtung, die Hälfte des Preisgeldes von 750.000 Schweizer Franken für die Finanzierung von Forschungsprojekten zusammen mit vornehmlich jungen Wissenschaftlern zu verwenden. Aleida und Jan Assmann berichten in einem Gespräch (aus dem Sommer 2019, das jetzt öffentlich gemacht wurde,) über ihre Erfahrungen mit der Anschlussforschung.

Im Jahr 1992 erschien, Herr Professor Assmann, ihre grundlegendes Buch „Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“. Darin heißt es gleich im Vorwort: „ Alles spricht dafür, dass sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaft aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen lässt.“ Ein „neues Paradigma der Kulturwissenschaft“ – ist diese Voraussage fast 30 Jahre danach eingetreten?

Jan Assmann: „Das kann man wohl sagen. Seitdem ist der Begriff ‚Gedächtnis‘ als Zentralbegriff der Kulturwissenschaft etabliert. Es gibt eine Memory Studies Association (MSA), die weltweit operiert, da gehören Tausende von Mitgliedern dazu. Aleida war gerade bei einer Tagung der MSA in Madrid und hat da einen Vortrag gehalten. Das alles hat sich in den letzten 30 Jahren entwickelt. Ich habe damals natürlich den Mund ganz schön voll genommen, aber es ist so gekommen. Natürlich haben wir diese Lawine nicht losgetreten, sondern waren selbst von ihr bereits erfasst worden. Ich sage ‚wir’, denn dieses Buch war gedacht als der erste Teil eines Buches, das wir zusammen schreiben wollten. Der zweite Teil von Aleida erschien dann ein bisschen später unter dem Titel ‚Erinnerungsräume – Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses‘.“

Die Stadt als Erinnerungsraum

Dass Sie den Mund nicht zu voll genommen haben, zeigt sich auch in der Verleihung des Balzan Preises zu eben diesem Forschungsfeld. Und die Problematik der Erinnerungsräume, Frau Professor Assmann, führt zum neuen Balzan Forschungsprojekt über die Stadt als Erinnerungsraum.

Aleida Assmann: „Die Überschrift, die wir für das Forschungsprojekt im Anschluss an den Balzan Preis gewählt haben, lautet ‚Memory in The City‘. Das Thema setzt in der Gegenwart an und fragt nach der Art und Weise, wie sich heute Gedächtnis kristallisiert, welche Spannungen es gibt und wie Menschen es miteinander aushandeln unter den Bedingungen der Globalisierung. Unser Interesse gilt nicht den Erscheinungen der Globalisierung in ihren weiten Ausdehnungen, sondern der Frage, wie sie auf engstem Raum aufeinander treffen – und das geschieht in den Städten. Die Stadt interessiert uns schon lange als ein Gedächtnisraum, weil eine Stadt immer mehrere historische Schichten aufweist. Was hinzu kommt ist, dass durch Migration in dem Stadtraum Menschen siedeln, die vorher nicht zusammen gelebt haben und miteinander eine neue Form des Zusammenlebens entwickeln und aushandeln müssen. Was ihnen von vornherein gemeinsam ist, das ist der gemeinsame Raum, den man bewohnt. Und wie in diesem Raum die Bedeutung des Gedächtnisses, der unterschiedlichen Gedächtnisse, des Gedächtniskonflikts, aber auch die Anknüpfungspunkte und der Verbindungen zwischen diesen Gedächtnisformen funktionieren, das wollen wir mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern empirisch erforschen.“

Wie sind Sie dabei vorgegangen, haben Sie bestimmte Städte ausgewählt?

JA: „Der erste Schritt war, einen call for applications für dieses Projekt im Internet zu publizieren. Wir hatten keine bestimmten Städte im Blick, wir haben nur vorgegeben, es soll möglichst um europäische Städte gehen und um die Frage, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen, d.h. welche Formen und Inhalte von Gedächtnis sie ausbilden. Auf diesen call for applications haben wir 18 Bewerbungen aus aller Welt bekommen. Vier davon waren so ausgezeichnet, dass wir beschlossen eine Gruppe zu bilden, in der sich die Teilnehmer gegenseitig ergänzen können.“

AA: „Uns wurde klar, dass wir den besten Nutzen mit dem Geld machen, das uns Balzan mit dem Preis zur Verfügung gestellt hat, wenn wir eine Gruppe zusammenstellen und nicht einen Einzelnen arbeiten lassen. Weil aus unserer eigenen Erfahrung erst das Miteinander unterschiedlicher Positionen den Reichtum eines Forschungsvorhabens gewährleistet. Teilnehmer, wie die unserer Gruppe, die miteinander sehr eng interagieren, die nicht dieselben Projekte aber ähnliche oder verknüpfbare Projekte haben. Die aus verschiedenen Nationen und geographischen Räumen kommen und auch verschiedene Fächer vertreten.“

 Projekte, die sich vernetzen und gegenseitig inspirieren

 Um welche Themenbereiche geht es?

 AA: „Unter dem Obertitel ‚Memory in The City’ arbeiten vier Post-Doktoranden als Stipendiaten, zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Gruia Badescu, Architekturhistoriker aus Rumänien und Urban Designer, hat einen Schwerpunktbegriff gefunden, den er ‚Syncretic Placemaking‘ nennt. Die Stadt als ein Ort, in den hinein unterschiedliche Gruppen ihre Kultur und Herkunftsgeschichten mitbringen, um einen synkretischen Raum zu schaffen.

Die Französin Ann-Sophie Schöpfel, eine Politikwissenschaftlerin, arbeitet über Vietnamflüchtlinge. Das ist eine Gruppe mit einer langen Emigrationsgeschichte, das fängt in den 1950er Jahren schon an. Die Vietnamflüchtlinge haben so etwas wie eine Diaspora-Kultur überall in Europa und auch außerhalb Europas gebildet. Sie haben ihre eigenen Tempel, ihre eigenen Infrastrukturen und sind meist gut integriert. Teilweise verhalten sie sich patriotisch innerhalb der Nationen, die sie aufgenommen haben. Zugleich versuchen sie als demokratisch inspirierte geflohene Gruppe mit dieser Erfahrungsgeschichte auf ihr Heimatland zurück zu wirken. Also das ist eine sehr spannende Beziehung unter dem Thema ‚Migration and Integration‘.

Die Historikerin Ulrike Capdepon aus Spanien arbeitet über ‚Memory and Political Change‘ und schaut auf die Umbenennung von Plätzen, Straßen usw. und geht der Frage von Wiederherstellung von Denkmälern oder den Abrisses von Denkmälern in Post-Diktaturländern wie Spanien oder Portugal nach, wo entweder die vorangegangene Diktatur durch Veränderung der Ortszeichen sozusagen richtig abgewählt wird – oder sie wieder hoch kommt.

Piotr Kisiel schließlich, unserer polnischer Historiker, beschäftigt sich mit ‚Critical Heritage‘. Heritage ist ein Begriff, der sehr stark geworden ist. Oft wird Heritage-Pflege zu Zwecken des Prestiges aber auch für Machtpositionen oder zur Ausgrenzung instrumentalisiert. Da hat sich inzwischen der Begriff ‚Critical Heritage’ etabliert. Piotr untersucht, wie in post-industriellen Städten – er macht einen Vergleich zwischen Chemnitz, Lodz und Essen – das industrielle Erbe verarbeitet, in die Gegenwart überführt und neu definiert wird. Syncretic Placemaking, Migration and Integration, Memory and Political Change und Critical Heritage: Das sind also die vier verschiedenen Projekte der Stipendiaten und die Idee ist dann, dass sie sich über diese Grundbegriffe vernetzen und gegenseitig inspirieren können.“

Eine Gruppe, die überrascht

Der interdisziplinäre Charakter ist Ihnen von Anfang an wichtig gewesen?

JA: „Ja, lassen Sie mich das mit einem Focus auf die vier Stipendiaten unterstreichen. Das fängt an mit Gruia Badescu aus Rumänien, der ist Stadtplaner, Stadtsoziologe, Stadtforscher, hat Geschichte, Architektur und Urban Design in England und den USA studiert und ist außerordentlich viel gefragt und gut vernetzt. Ulrike Capdepon aus Spanien ist Politikwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin. Ann-Sophie Schöpfel aus Frankreich, hat nicht nur in Heidelberg am Exzellenzcluster ‚Asia and Europe‘, sondern auch in Paris und Nantes, einer Dependance der Sorbonne, studiert und promoviert. Im Augenblick nimmt sie eine Lehrstuhlvertretung in Frankreich war und hat dort gleich Piotr Kisiel engagiert, der dort ein Semester mit unterrichtet. Dieser Piotr Kisiel aus Polen hat zuletzt an der European University Institute in Florenz studiert und promoviert und vorher in Polen schon drei Magister in verschiedenen Fachrichtungen gemacht, ist also ungeheuer vielseitig ausgebildet.“

AA: „Das ist eine Gruppe, die wir aufs Gleis gesetzt haben und die uns mit ihren Aktivitäten überrascht. Wir waren 2018 vier Monate in Berlin, unsere Stipendiaten waren aber hier schon angesiedelt und haben sich getroffen. Wir haben in Konstanz ein kulturwissenschaftliches Kolleg, das einen sehr guten Rahmen bietet. Da haben sie Arbeitsplätze, da können sie sehr gut kommunizieren und da sind sie gut versorgt. Deswegen waren sie nicht heimatlos, als wir in Berlin waren. Und sie haben schon vieles ohne uns organisiert. Zum Beispiel eine Tagung, zu der ich dann noch dazu stieß, alles aus eigener Kraft. Und es ist geplant, diese Tagung jetzt bei Palgrave Macmillan in einer Reihe für Erinnerungsstudien zu publizieren. Und im August 2018 hat unsere Gruppe eine internationale Sommerschule in Konstanz organisiert. Weil sie wussten, dass Konstanz ein attraktiver Konferenz- und Studienort ist, haben sie sich zusammen gesetzt, einen call for papers gemacht und eine Auswahl von Teilnehmern zusammengestellt. Das Programm ist wirklich eindrucksvoll. Wir haben das Glück, auf die richtigen Leute gesetzt zu haben, die sich gegenseitig geradezu überbieten mit Ideen und Aktivitäten.“

Ein finanzielles Problem

Sie sprechen von Stipendiaten, wie ist das finanziell geregelt?

JA: „Da gab es ein großes Problem. Kaum, dass wir diesen schönen Preis gewonnen hatten, haben wir sofort die applications rausgeschickt im November 2017 und unsere Auswahl getroffen, um für 2018, 2019 vielleicht auch noch 2020 unsere vier Leute auf Stipendienbasis mit 2000.- Euro im Monat zu beschäftigen. In dem Winter 2017/2018 änderte sich jedoch die Hochschulgesetzgebung. Und die Hochschulen – der Balzan Preis muss ja über eine Hochschule abgewickelt werden – dürfen nicht mehr Stipendien vergeben, sondern müssen Stellen auf Zeit einrichten. Um in diesem Rahmen auf den als Stipendium vorgesehenen Betrag zu kommen, verdoppelt bis verdreifacht sich durch die fälligen Steuern, Versicherungen usw. der finanzielle Aufwand und verkürzt sich entsprechend die Förderungszeit. Was vorher 2000.- Euro waren, sind jetzt um die 4000.- Euro, und aus vorher zwei Jahren Förderung wurde jetzt ein Jahr.“

AA: „Wir haben uns also gefragt, wie können wir das retten? Wir können die, die von Anfang an so gut zusammen arbeiten, doch nicht gleich wieder nach Hause schicken! Und da haben wir im ersten Fall schon mal großes Glück gehabt, weil wir den einen als Humboldt-Stipendiaten abgeben konnten. Ein Humboldt-Stipendium ist ein Gewinn fürs Leben; man bleibt einbezogen und hat sehr gute Konditionen. Also den können wir von unserer Liste streichen. Und bei einem anderen hoffen wir, dass wir mit engen Verhandlungen bei der Thyssen Stiftung ein Stipendium bekommen. Und wir hoffen jetzt bei den beiden Frauen darauf, dass wir vielleicht über Frauenförderung oder Habilitationsstipendien es schaffen, die auch noch weiter zu unterstützen. Wir versuchen also nicht nur inhaltlich mit ihnen zu arbeiten, sondern auch ihre Karrieren zu sichern.“

Eine Lehre für Balzan ist: Geld allein genügt nicht, es braucht auch Vernetzungen?

JA: „Das ist genau unsere Erfahrung.“

Raumforschung in den Kulturwissenschaften

 Was ist in Ihrer Sicht zukunftsweisend an dem Projekt?

AA: „Ich sehe das Neue in dieser ganz engen Form der Interdisziplinarität. Auf der Ebene dieser jungen Leute, der Nachwuchsgruppen, die bereits in dieser Phase die Möglichkeiten haben, ihre Forschungen miteinander abzustimmen und von den Konzepten der anderen zu profitieren. Wenn wir sagen, wir machen empirische Forschung, dazu gehören nicht nur Interviews etc., es gehören auch traditionelle Quellen und Gegenwartsquellen wie die Erhebung der Medien dazu, Gegenwartsbeobachtung. Aber es gehört auch ein Bestandteil an Theorie dazu: Wo bekommt man seine Konzepte her. Und für ‚Memory in The City‘ spielt ein große Rolle der ‚Spatial turn‘ in den Kulturwissenschaften, also die Wende hin zur Raumforschung. Man hat bisher in den Geschichtswissenschaften die Zeit und die vergangenen Epochen in den Mittelpunkt gestellt – jetzt kommt die Raumforschung hinzu. Dieser Impuls ist von Architekten ausgegangen und hat enorm viel erneuert in den Kulturwissenschaften.

Dazu tragen unsere vier Projekte bei. Es gibt einen Verständigungszusammenhang zwischen unseren Stipendiaten. Sie sind ständig auf Tagungen, machen neue Erfahrungen, hören wichtige Stichworte und bringen das in die Gruppe zurück. Eine wichtige Theoretikerin in diesem Zusammenhang ist Doreen Massey (1944-2016), die hat ihr wichtigstes Buch „World City“ 2007 geschrieben, und das ist eine Geographin. Also für die Raumforschung gibt es neue Konzepte. Hier öffnen sich jetzt Grenzen zwischen den Fächern und es erweitert sich der Horizont. Das ist sicher zukunftsweisend.“

Das Gespräch wurde im Auftrag der Balzan Stiftung bereits am 22. Juli 2019 (also vor dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie) in Heidelberg geführt. Siehe auch „Das ist sicher zukunftsweisend“ im gerade erschienen Band der Fondazione Internazionale Balzan, Balzan Papers III 2020. Casa Editrice Leo S. Olschki, Firenze 2020. pagg 411, 55 Euro.

Aleida Assmann, geboren 1947, hatte von 1993 zu ihrer Emeritierung 2014 den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz inne. Ihr Ehemann Jan Assmann, geboren 1938, wirkte von 1972 bis zu seiner Emeritierung 2003 vom Lehrstuhl für Ägyptologie der Universität Heidelberg aus. Beide sind mit Lehraufträgen für Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz tätig. Nach dem Balzan Preis (2017) wurde beide auch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2018) ausgezeichnet.

Gerade erschienen von Jan Assmann „Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst“. Beck Verlag, München 2020. 272 Seiten, 28 Euro

 

 

Am 16. November erscheint von Aleida Assmann „Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“. Beck Verlag, München 2020. 336 Seiten, 18 Euro