NETZWERKER IM KULTURELLEN AUSTAUSCH


Ein Sammelband über Heinrich Mylius, die Lombardei und das nordalpine Europa im frühen 19. Jahrhundert ausgehend von einer Tagung in der Villa Vigoni

© Villa Vigoni

Brückenbauer zwischen Süd und Nord: Heinrich Mylius (Frankfurt 1769 – Mailand 1854), Gemälde von Pelagio Palagi (1831) in der Villa Mylius-Vigoni (Loveno di Menaggio/Como)

Mailand – Im Jahr 1788 wählte ein 19jähriger Deutscher sich Mailand zum Lebensmittelpunkt, um hier die kaufmännischen Interessen seiner Familie aus Frankfurt zu vertreten: Heinrich Mylius (Frankfurt 1769 – Mailand 1854).  Er machte sich bald selbstständig und wurde so als erfolgreicher Unternehmer zu einer wichtigen Figur im Netzwerk zwischen dem deutschsprachigen Raum und Norditalien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Lebenszeit deckt sich mit der historischen Epoche des Übergangs von der frühen Neuzeit und der Moderne („Sattelzeit“). Dazu gehören Napoleons norditalienischer Staat mit Mailand als Hauptstadt (1796-1814), Unruhen in der Lombardei 1821 bzw. 1830 und die berühmten „Cinque Giornate“, der Aufstand im März 1848, der die Österreicher für einige Monate aus Mailand vertrieb.  Aus einer Tagung des deutsch-italienischen Zentrums Villa Vigoni und der Goethe-Universität Frankfurt/Main mit Unterstützung der Werner Reimers Stiftung ist ein Sammelband (Franz Steiner Verlag) hervorgegangen, der Beiträge zum Verhältnis von Heinrich Mylius und seiner Epoche sammelt.

Herausgegeben von Magnus Ressel und Ellinor Schweighöfer von der Uni Frankfurt werden Aspekte einer Zeit deutlich, die „als Epoche der neuen Möglichkeiten zu sehen ist“, und, so die Herausgeber, „es Akteuren aus den bis dato nicht privilegierten Schichten ermöglichte, bislang unbekannte Wege zu beschreiten und Erfolg zu finden.“ Der Kaufmann, Bankier und Mäzen Heinrich Mylius hatte – wenn nicht im Rampenlicht so doch hinter den Kulissen – prägenden Einfluss auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Klima in der Lombardei im Austausch mit seiner Geburtsstadt Frankfurt und dem kulturellen Raum nördlich der Alpen. Dazu kamen Handelsbeziehungen, die über Genua bis nach England (Liverpool) reichten. Mylius wurde als Unternehmer zu einem Pionier, den als Protestant und Philanthrop auch ein modernes Sozialbewusstsein antrieb. Ein, wie es in der Einführung heißt, „zupackender, mutiger Bildungspolitiker“ sowie ein „Netzwerker im kulturellen Austausch“ zwischen Frankfurt, Weimar – der Heimatstadt seiner Frau Friederike – und Mailand, „wo er zu Ansehen und Reichtum gelangte.“

Die zwölf Beiträge des Bandes führen wirtschaftshistorische und kulturgeschichtliche Ansätze zusammen und verfolgen darüber hinaus persönliche Lebenswege. Sie weisen so, wie die Herausgeber unterstreichen, „eine reichhaltige Bandbreite an künstlerischen, politischen und diplomatischen Aspekten auf“. Der Band gliedert sich in drei Themenschwerpunkte. Es geht zunächst um die  „Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Lombardei vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert“. Da wagt etwa der Wirtschaftshistoriker Claudio Besana die These, dass die führende Stellung der Lombardei im italienischen Wirtschaftsgefüge um 1900 zu einem wesentlichen Teil deutschen Migranten und ihrer wissenschaftlich-technischen Kultur geschuldet ist.

Wissenskultur und musikalische Netzwerke

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem „deutsch-italienischen Wirtschaftsbürgertum und seinen Schlüsselakteure zwischen Mailand und Frankfurt am Main“ in der Sattelzeit. Wolfgang Bunzel (Goethe Haus Frankfurt / Freies Deutsches Hochstift) verfolgt zum Beispiel die Spuren der Kaufmanns- und Literatenfamilie Brentano aus Tremezzo (bei Como), die sich gleichsam spiegelbildlich zu dem in Italien heimatlich werdenden Mylius-Clan im deutschen Rhein/Main-Gebiet integriert. Im dritten Abschnitt geht es um „Literatur, Kunst und Wissenschaft zwischen transalpiner Philanthropie, politischem Aktivismus und regionaler Verankerung“. Das ist vielleicht der anregendste Teil des Bandes u.a. mit einem Beitrag der Mailänder Historikerin Marina Cavallera über die Wissenschaftskultur, die sich etwa in der Botanik und Landwirtschaft in der Lombardei verbreitet. Oder mit einer Untersuchung der Historikerin Christiane Liermann Traniello, Generalsekretärin der Villa Vigoni, zu den Verbindungen von Mylius zu regionalen Künstlern und Wissenschaftlern, die wie der Schriftsteller Alessandro Manzoni, der Maler Francesco Hayez oder der politische Denker Carlo Cattaneo bereits eine europäische Bedeutung erlangt hatten.

© Tanja Nittka

Einst Landsitz von Heinrich Mylius am Come See  heute Deutsch-Italienisches Zentrum für den Europäischen Dialog Villa Vigoni – hier die Bibliothek. Gemälde („Der Brief) von Tanja Nittka (2019) aus der Ausstellung „Nunc stans“ in der Villa Vigoni (11.11.21 bis 28.2.22).

Mit großem Vergnügen und Gewinn liest man den abschließenden Beitrag der Musik- und Literaturwissenschaftlerin Viola Usselmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Villa Vigoni, über die Beziehungen von Heinrich Mylius mit Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich mehrmals als Gast in Mailand aufhält. Man stößt auf Spuren von August Goethe, der bei seiner Italienreise 1830 in Mailand fast täglich Kontakt mit der Familie Mylius hat. Bewegt folgt man der Geschichte des Requiems zum Tod von Julius, dem Sohn von Heinrich und Friederike Mylius. Über das musikkulturelle Netzwerk der Familie Mylius-Vigoni und über die Italienbezüge von Mendelssohn Bartholdy möchte man gerne noch mehr erfahren.

Magnus Ressel, Ellinor Schweighöfer (Hrsg.): Heinrich Mylius (1769-1854) und die deutsch-italienischen Verbindungen im Zeitalter der Revolution. Die Lombardei und das nordalpine Europa im frühen 19. Jahrhundert. Schriften der Villa Vigoni Band 8. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021. 368 Seiten, 68 Euro

Zum Leben von Mylius siehe auch: Giovanni Meda Riquier, Viola Usselmann: Enrico Mylius. Una Biografia / Heinrich Mylius. Eine Biographie. Deutsche Fassung des Textes von Giovanni Meda Riquier: Christiane Liermann Traniello unter Mitwirkung von Marlene Labitzke. Villa Vigoni Editore, Loveno di Menaggio 2019. 178 Seiten, 20 Euro

Infos zur Villa Vigoni hier