Der Illustrator Carlo Stanga im Gespräch über versteckte Wahrheiten, Grenzüberschreitungen sowie über die Beziehungen zwischen Kunst, Natur und Architektur
Mailand – Der Architekt, Illustrator und Buchautor Carlo Stanga arbeitet mit wichtigen Magazinen und Zeitungen auf der ganzen Welt sowie mit kulturellen Institutionen zusammen. Für das von Andreas Kipar herausgegebene LANDmagazin Vol.2, einer internen Zeitschrift des Architektur- und Consultingunternehmens Land srl, hat er die Folge WanderWorld entworfen. In einem Gespräch reflektiert er seine Arbeit und die neue Rolle der Natur für die Architektur.
Carlo Stanga wurde 1966 im norditalienischen Crema geboren und lebt in Berlin. Für ein Verlagsprojekt mit Moleskine schreibt und illustriert er eine Buchreihe über Städte wie Mailand, London, New York. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehört das erste illustrierte Kinderbuch über Zaha Hadid (MAXXI und Raum Italic).
Vom Architekten zum Künstler, vom Städtebauer zum Städtezeichner – wie kam es zu diesem Sinneswandel?
Carlo Stanga: „Ich würde sagen, dass es kein Sinneswandel war, sondern ein natürlicher Weg für mich. Ich habe schon immer leidenschaftlich gerne gezeichnet. Ich habe mit eineinhalb Jahren angefangen zu zeichnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Später, in der Grundschule, nach einer Reise nach Rom, entwickelte ich ein intensives Interesse an Architektur und der Stadt. Die beiden Leidenschaften gingen weiter, und während ich das Mailänder Polytechnikum besuchte, begann ich als Illustratorin zu arbeiten. Nach meinem Abschluss hatte ich das Glück, dass mir sofort wichtige Architekturaufträge angeboten wurden, z. B. für freistehende Häuser oder Bürogebäude, und so eröffnete ich mein eigenes Studio in Mailand, aber gleichzeitig hörte ich nie auf, professionell zu illustrieren. Ab einem gewissen Punkt umfasste meine Tätigkeit als Illustrator die eines Architekten, in dem Sinne, dass die Illustration die Architektur als Inhalt ausdrückte. Ich habe die Entscheidung getroffen, mich der Tätigkeit zu widmen, die ich lieber mag und die mir schon immer freier von bürokratischen Aspekten und Kompromissen zu sein schien. Außerdem sind die Arbeit eines Architekten und die eines Illustrators sehr unterschiedlich und erfordern ein Vollzeit-Engagement, das nicht gleichzeitig ausgeübt werden kann. Ich musste eine Entscheidung treffen und habe mich ganz der Illustration verschrieben, ohne die Architektur, die in meinen Bildern lebt, aufzugeben. Ich habe einen Job, der auf mich zugeschnitten ist und bei dem ich viele Leidenschaften einbringen kann: Illustration, Architektur, Stadtplanung, Reisen, Kino, Literatur… Wie mir ein Journalist einmal sagte: a dream job.“
Ihre Bücher über die Städte Mailand, New York oder London sind vielfach ausgezeichnet worden. Bei den Illustrationen für das „LANDmagazin“ geht es um den Zusammenhang von urbanen und ländlichen Räumen. War das eine neue Herausforderung?
CS: „Es stimmt, für mich waren die Illustrationen für das LANDmagazin in gewisser Weise eine neue Herangehensweise an das Thema der Stadt, über die Stadt hinaus. Ich konnte mich mit dem Thema der vorstädtischen Umgebung auseinandersetzen, ausgehend von einer allgemeinen Betrachtung der verschiedenen Merkmale der heutigen Landschaft, die sicherlich nicht mehr die von Poussin oder Goethe beschriebene ist, sondern eine extrem anthropisierte Welt ist, in der die Schichtung der menschlichen Eingriffe sehr vielfältig und interessant ist. In der Tat gibt es keine klare Grenze mehr zwischen der städtischen Realität, wie wir sie traditionell betrachten, der Innenstadt, und den umliegenden Vororten, sondern wir erkennen jetzt eine sehr weitreichende Kontamination zwischen der Natur und der Stadt, wo das eine und das andere miteinander koexistieren und sich auf der Suche nach einem Gleichgewicht vermischen.
Bislang habe ich mich hauptsächlich mit der Innenstadt beschäftigt, daher war es an der Zeit, mich mit der zeitgenössischen Landschaft und der zwischenstädtischen und regionalen Dimension zu befassen, wobei ich eine neue Beziehung zwischen den menschlichen Spuren und der Kombination mit der Natur entdeckte, die oft eng miteinander verbunden und nicht voneinander zu trennen sind. Dies ist eine neue Ästhetik für mich, auf der Suche nach zeitgenössischer Schönheit.
Um einen Weg zu finden, eine so komplexe Realität darzustellen, dachte ich daran, mich von den Landschaften der Renaissance inspirieren zu lassen, insbesondere von Piero Della Francesca, wo Harmonie und Gleichgewicht eine ästhetische Entscheidung sind, die mich dazu veranlasst hat, die Kontinuität und nicht die Kontraste und Unterschiede zu betonen. Ich wollte vor allem die Entdeckung einer zeitgenössischen Harmonie beschreiben, und dabei hat mir die italienische Renaissance sehr geholfen.“
Wie ist der Titel „WanderWorld“ entstanden, was verbirgt sich dahinter?
CS: „WanderWorld ist ein Titel, der ein Umherziehen in der Landschaft suggeriert, eine Reise, die nicht geplant ist, sondern sich dem Zufall überlässt. Die Entdeckungen sind in der Tat endlos und unerwartet. Dann gefällt mir das englische Verb wander, umherschweifen, weil es auch an das Wort Wunder erinnert, an das Wunder, auf Entdeckungsreise zu gehen und sich die Fähigkeit zu bewahren, sich überraschen und begeistern zu lassen. Mir scheint, dass das Thema des Wunders, des Stupor Mundi, heute eher in Vergessenheit geraten ist. Das Wundern scheint eine Emotion der Vergangenheit zu sein. Heute gaukeln uns die Algorithmen des Internets vor, dass wir beiläufig Dinge entdecken, die uns gefallen, aber auf diese Weise geraten wir in eine immer gleiche Endlosschleife, während die wirkliche Entdeckung der realen Welt nur durch direkte, physische Erfahrung, durch das wonder-wandering durch die Welt, hier in WanderWorld zusammengefasst, erfolgen kann.“
Die Rolle der Natur in Architektur: ist das ein Thema, das auch in Zukunft interessieren kann?
CS: „Als Zeitgenosse interessiere ich mich natürlich für alles, was unsere Zeit am meisten zu prägen scheint. Zu den Merkmalen des heutigen Zeitgeistes gehört ein neues Bewusstsein für die entscheidende Rolle der Umwelt. Ein Gefühl, das meiner Überzeugung nach in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen wird.
Während meines Architekturstudiums am Mailänder Polytechnikum an der Wende von den 1980er- zu den 1990er-Jahren erinnere ich mich daran, dass die Architektur in einer für die lateinischen Kulturen typischen Weise als eine von der Natur getrennte Welt betrachtet wurde, und dass selbst dort, wo Grün vorhanden war, die gebaute Umwelt stets dominierte. Es gab eine Unterordnung der Landschaft unter die Architektur. Auch wenn es im Allgemeinen gewisse ökologische Aspekte gab, so wurde die Natur zumindest in unserer italienisch-lateinischen Welt immer als ein Element erlebt, das einfach abwesend war oder unterworfen, ja fast überwältigt werden sollte. Ich denke da zum Beispiel an die Arbeiten von Gregotti, von meinem Professor Vittoriano Viganò, von allen so genannten Postmodernisten dieser Zeit wie ebenso Aldo Rossi. Die Natur beteiligte sich einfach nicht an dem Projekt oder lehnte sich ängstlich aus der Bekrönung der Kirchen von Mario Botta heraus. Mir fällt nur ein Architekt mit einer Vision ein, für den die natürliche Umwelt in jenen Jahren als Protagonist in das Projekt einbezogen zu werden schien: Emilio Ambasz.
Heute wird mir die Notwendigkeit der Integration von Natur und Stadt immer bewusster, und dank LAND hatte ich die Möglichkeit, dieses wichtige Thema zu vertiefen.“
Ihre Illustrationen gehen von der Wirklichkeit aus und bieten zugleich eine neue Dimension von Wirklichkeit. Wie wichtig ist es Grenzen zu verschieben, zu überschreiten?
CS: „Vielen Dank für Ihre Frage, die eines der Merkmale meiner Arbeit auf den Punkt bringt. Bei meinen Illustrationen neige ich nämlich immer dazu, die urbane Realität auf eine Weise zu beschreiben, die über das unmittelbare Erscheinungsbild hinausgeht. Andererseits ist ‚illustrieren‘ ein Verb, das aus dem Lateinischen stammt und im Grunde ‚erhellen‘, ‚deutlich machen‘ bedeutet. Gerade durch die Illustration versuche ich also, die Realität in ein neues Licht zu rücken, um sie zu enthüllen und zu erklären. Es ist daher wichtig, die Grenzen einer gewöhnlichen Sichtweise der Realität zu überschreiten, ihre verborgenen Wahrheiten, ihre Widersprüche hervorzuheben, indem man Fantasie, ‚unangemessene‘ Farben und Überdimensionierung einsetzt. Es handelt sich natürlich immer um eine Darstellung, bei der, wie in einer Theaterszene, die Interpretation und die persönliche Sichtweise die Hauptrolle spielen.“
Es ist das Spielerische Ihrer Illustrationen, das gleichsam Kindliche, das Phantastische, dass sie auszeichnet. Spielen dabei Kindheitserinnerungen eine Rolle? Und können Kinderphantasien für einen Künstler Vorbild sein?
CS: „Ein Illustrator, aber auch ganz allgemein ein Künstler zu sein, bedeutet in erster Linie, sich selbst zu erkennen, in Kontakt mit seinem Daimon zu stehen, wie die antiken Griechen es nannten, d.h. mit dem wahrsten und tiefsten Teil von uns. Eine Erfahrung, die man schon als Kind machen kann und die sehr stark mit Kreativität verbunden ist, wie ich von meinem Maestro Bruno Munari lernen durfte.
Ich rate Jungen und Mädchen, die sich künstlerisch betätigen und mit ihrer Kreativität in Berührung kommen wollen, oft dazu, die Zeichnungen, die sie als Kinder im Kindergarten oder in der Grundschule angefertigt haben, wieder hervorzuholen, um in ihnen ihren eigenen, authentischen Teil wiederzuentdecken, um sehr persönliche und einzigartige Aspekte von sich selbst wiederzufinden und ihre Art, zu schaffen und die Welt zu sehen. Es ist eine Übung, die jeder machen sollte, um die tiefen Wurzeln seiner selbst wiederzuentdecken. Die Fantasie, die Verspieltheit dieser Lebensphase, sind Werkzeuge, die uns helfen, die Welt besser zu verstehen, indem sie sie mit den Augen eines Kindes vereinfachen.“ (Gespräch geführt im Januar 2023)
Die Druckfassung vom LANDmagazin Vol.2 „The Joy of Landscape“, Hrsg. Andreas Kipar, landsrl.com, ist im Dezember 2022 mit den Illustrationen von Carlo Stanga in Mailand erschienen. Hintergrundinformationen dazu sowie die Texte der Artikel in englischer Übersetzung kann man digital abrufen unter: landsrl.com/land-magazine. Hier findet man auch die englische Version des ursprünglich auf Italienisch geführten Gesprächs.
Hier zur Homepage von Carlo Stanga
Über Andreas Kipar siehe auf Cluverius u.a. „Die Landschaft und ihr Zauber“