VON HERDER BIS HEUTE


Ein Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Philip V. Bohlman, Balzan Preisträger 2022, über Volksmusik und Gesellschaft, den Eurovision Song Contest, Viktor Ullmann und den Begriff Rassismus

© Fondazione Balzan

Philip V. Bohlman, Balzan Preis für Ethnomusikologie, vor römischer Kulisse

Mailand/Rom – Der US-amerikanische Musikologe Philip V. Bohlman wurde kürzlich in Rom im Fachbereich Ethnomusikologie mit dem Balzan Preis 2022 ausgezeichnet. Der 70jährige Wissenschaftler lehrt und forscht an der University of Chicago, hat aber auch in Europa u.a. an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sowie an den Universitäten Freiburg, Wien, Innsbruck oder Kassel unterrichtet. Der Preis der internationalen Balzanstiftung (Mailand/Zürich) wurde ihm, wie es in der Begründung der Jury heißt, „für seinen bahnbrechenden Beitrag zur Ethnomusikologie und zur Musikforschung im weiteren Sinne, für seine Arbeiten über Musik und europäischem Nationalismus, Musik, Rasse und Kolonialismus, Globalisierung, Zusammenhang von Musik und Religion, jüdische Musik in der Moderne und historische Aufführungen urbaner jüdischer Musik“ verliehen. Am Rande der Preisverleihung in Rom gab es die die Möglichkeit zu einem kurzen Gespräch mit Philip V. Bohlman, der sich u.a. auch durch die Verbreitung der Schriften Herders im angelsächsischen Raum verdient gemacht hat. 

Musik geht über Grenzen, sagt man, aber sie kann auch national sein?

Philip V. Bohlman: „Genau. Sie kann national sein und nationalistisch.“

Was ist der Unterschied?

PVB: „Beim Nationalen in der Musik geht es mehr darum, was innerhalb des Landes passiert. Es geht um Metaphern, Symbole usw., die aus einer Vergangenheit kommen. Der Blick geht in die Geschichte. Volkskultur kommt aus dem Volksgut. Das ist für mich das Nationale. Das findet man etwa im Konzept des Volksliedes,  ein Begriff, den Johann Gottfried Herder geprägt hat. Nationalistisch ist eine Musik, die sich abgrenzt und sich im Gegensatz zu anderen Kulturen sieht. Gleichsam eine Verteidigungshaltung einnimmt. Wir sind eine Nation, unser Land beginnt an der Grenze, die anderen stehen jenseits der Grenze, können sogar Feinde sein. Also der Unterschied zwischen dem Nationalen und dem Nationalistischen ist wichtig. Darüber hinaus kann es einen guten Nationalismus geben und einen bösen Nationalismus, wie wir aus der Geschichte  gelernt haben.“

Sicher spielt hier das Wort im Zusammenhang mit der Musik eine wohl ganz entscheidende Rolle. Aber gilt national oder gar nationalistisch auch für Instrumentalmusik?

PVB:  „Das gilt auch für Instrumentalmusik. Zum Beispiel in Bayern die Blechmusik. Die gründet sich auf eine lange Tradition. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Blick in die Ukraine. Der Unterschied der russischen und der ukrainischen Volksmusik liegt in zwei unterschiedlichen Instrumenten. In der Ukraine ist das die Bandura das Nationalinstrument. In Russland ist das die Balalaika. Zwei Kulturen, zwei verwandte aber doch unterschiedliche Instrumente.“

Was passiert in Fußballstadien?

PVB:  „Am Anfang des Spiels stärkt etwa bei Länderspielen die Nationalhymne das Gemeinschaftsgefühl. Aber das kann auch eine symbolische Bedeutung annehmen. Bei der vergangenen Fußball Weltmeisterschaft in Qatar haben die Spieler aus dem Iran beim Abspielen ihrer Hymne nicht mitgesungen – aus Protest gegen die gesellschaftlichen Zustände in ihrem Land.“

Wie wichtig ist es Volkskultur wahrzunehmen?

PVB:  „Das ist sehr wichtig. Da werden historische Bewegungen deutlich, zum Beispiel beim Revival. Eine Revival Bewegung  entsteht oft in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Änderungen abspielen. Zum Beispiel in Deutschland das Revival der jüdischen Musik in den 1960er-/1970er-Jahren. Das war eine bedeutende Wahrnehmung der Vergangenheit, und zugleich eine Reaktion darauf. Eine Art Vergangenheit aufzuarbeiten parallel zur gesellschaftlichen Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus, die damals in der Bundesrepublik einsetzte.“

Heute verbreitet sich ein neuer Nationalismus in Europa. Schlägt sich das auch in Musik wieder? Oder ist es noch zu früh für solche Beobachtungen?

PVB:  „Man kann das durchaus in der Musik finden. Die hat sogar Tendenzen vorweggenommen. Etwa im Eurovision Song Contest, bei dem die nationalistischen Songs stark zugenommen haben und in den Vordergrund gerückt sind. Im Mai 2022 hat die Ukraine mit einem sehr nationalistischen Lied gewonnen, das den Widerstand gegen Russland ausgedrückt hat. Im Laufe der vergangenen 20 Jahre ist der ESC immer nationalistischer geworden. Er ist bereits ein nationalistisches Paradebeispiel in seiner Anlage: eine Nation gewinnt, alle anderen gehen leer aus“.

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Der Wissenschaftler zusammen mit seiner Frau Christine Wilkie Bohlman in Rom bei der Präsentation einer Komposition von Viktor Ullmann nach einem Text von Rilke

Ist jüdische Volksmusik national oder vorwiegend religiös ausgerichtet?

PVB:  „Sowohl als auch. Zuhause in der Familie oder in der Synagoge ist das natürlich religiös geprägt. Die Musik aus Israel wiederum ist eine große Musik in der Welt und die ist nicht nur religiös. Es gibt Symphonien, Konzerte usw. Viele Formen werden in der jüdischen Musik sichtbar.  Es gibt zum Beispiel ein Melodram, eine Komposition aus einem KZ-Lager, von Viktor Ullmann aus Theresienstadt auf der Grundlage von Rilkes ‚Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‘. Ich führe das hier beim Balzan-Forum zusammen mit meiner Frau am Klavier auf. Man muss das auch als jüdische Musik verstehen, es ist ein Melodram in der tschechischen Tradition, für Sprecher und in diesem Fall Klavier.“

In Ihrer Forschung taucht das Wort Rasse auf, das im Deutschen umstritten ist, im Englischen etwas weniger. Wie weit ist dieser Begriff im wissenschaftlichen Diskurs noch zu benutzen?

PVB:  „Er taucht wieder in anderen Zusammenhängen auf. Zum Beispiel in Bezug der Debatten Rassismus und Antirassismus. Auch im Englischen wird die Menschheit ja nicht in ‚races‘ eingeteilt. Sondern man spricht von Rassismus etwa in der Bewegung ‚Black lives matter‘, die in Amerika aber auch in Europa eine Rolle spielt. Es geht um die Anerkennung des Anderen, der nicht weißer Hautfarbe ist. Wenn das Wort Rasse in der deutschen Sprache umstritten ist, finde ich das nicht schlecht, weil wir darüber nachdenken können, was die Geschichte dieses Begriffs ist.“

Gibt es antirassistische Musik?

PVB:  „Ja. Etwa die Musik, die jetzt häufig gespielt wird in Amerika. Eine neue Musik, die gegen die Vergangenheit eines musikalischen Kanons gerichtet ist, als man die Musik von afroamerikanischen Komponisten noch nicht wahrgenommen hatte. Die Vergangenheit muss jetzt anders gelesen, verstanden werden, um einen Antirassismus für die Zukunft zu etablieren.“

Herder hat den Begriff Rasse immer abgelehnt.

PVB:  „Für Herder war Geschichte und Sprache wichtig. Er war Theologe aber doch vor allem Sprachphilosoph. Der Begriff Volkslied, den er geprägt hat, bezieht sich auf Sprache. Er hatte nicht verstanden, warum die Deutschen keine Geschichte von der Musik hatten wie etwa die Italiener sie hatten. Der Nationenmensch war mit der Sprache verbunden. Er selbst stammt aus einem Gebiet, das heute die Grenze zwischen Litauen und Russland bildet. Seine erste Anstellung hatte er als Theologe, als Pastor in Riga. Er war der Meinung, dass die Musik eines Landes durch die Sprache in die Geschichte kommt. So würde ich das interpretieren.“

Woher kommt ihre intensive Beschäftigung mit Herder?

PVB:  „Für uns als Musikethnologen war Herder eine Art Begründer unseres Faches. Er hat Volkslieder aus aller Welt gesammelt und in zwei Bänden 1778/1779 veröffentlicht. Das war für ein Repertoire unserer Diskursgeschichte, ein Repertoire der Weltmusik. Nicht nur für uns als Fach. Damals entstanden mit Achim von Arnim und Clemens Brentano Volksmusikbewegungen in Europa im 19. Jahrhundert. Das war für mich sehr wichtig. Später hat mich interessiert, wie er die Musik aus der Nation heraus interpretiert. Ich habe dann im Englischen Texte aus seinen musikalischen Schriften veröffentlicht. Er hat sich immer für Musik interessiert. Das war tief in ihm verwurzelt.“

Ihre Forschungen drehen sich vor allem um Volksmusik. Ist die Grenze zwischen Volksmusik und klassischer oder E-Musik eigentlich immer eindeutig zu bestimmen?

PVB:  „Das kommt auf die Tradition und die Gattung an. Ich beschäftige mich viel mit dem, was wir klassische Musik nennen. In meinem jüngsten Buch aus dem Jahr 2021 beschäftige ich mich mit dem Hörstück ‚Wolokolamsker  Chaussee‘ von Heiner Goebbels. Komponiert 1989/1990 zu einem Text von Heiner Müller. Das Buch, das bei Bloomsbury in der Reihe ‚33 1/3‘  erschienen ist, geht von einer kraftvollen Schallplatteneinspielung aus. Mich aber interessiert, wie der Komponist Heiner Goebbels, ein immer noch wichtiger Komponist in Deutschland, mit verschiedenen Materialen arbeitet und geradezu ein Musikpanorama ausbreitet. Heiner Müller hat schon den Text aus verschiedenen Quellen collagiert, aus einem Roman, aus Kleist oder Kafka. Und Heiner Goebbels nimmt das auf und setzt ganz unterschiedliche Mittel ein, von der Volksmusik, fast Wolf-Biermann-artig, aber auch Hip Hop usw. bis zu Schostakowitsch 7. Symphonie. Das geht zusammen, das fällt nicht auseinander. Die Geschichte ist ja reich an diesem Zusammenspiel von sogenannter Hochkultur und von Volkskultur. Zum Beispiel die Texte von Balladen sind immer in Hochdeutsch verfasst, nicht etwa im Volksmund, obwohl sie vom Volksmund gesungen wurden.  Das ist hochinteressant wie überhaupt die Geschichte der schriftlichen oder der mündlichen Tradition.“

Gespräch geführt am 24.November 2022 in der Accademia dei Lincei, Palazzo Corsini, Rom

Zuletzt von Philip V. Bohlman  u.a. erschienen:

Heiner Müller and Heiner Goebbels’s Wolokolamsker Chaussee. 33 1/3 Europe. Bloomsbury Publ., New York 2021

Wie sängen wir Seinen Gesang auf dem Boden der Fremde! Jüdische Musik des Aschkenas zwischen Tradition und Moderne. Lit Verlag, Berlin 2019

Song Loves the Masses: Herder on Music an Nationalismen. UC Press, Berkeley 2017

Jazz Worlds / World Jazz. Univ. of Chicago Press, Chicago 2016

Focus: Music, Nationalismen, and the Making of the New Europe. Taylor & Francis Ltd, Milton Park 2010

Jewish Music and Modernity. Oxford Univ. Press, Oxford 2008

Jüdische Volksmusik: eine mitteleuropäische Geistesgeschichte. Böhlau Verlag, Wien 2005