Zum Tod von Umberto Eco
Mailand – Er war ein Philosoph und verschlang Comics. Leidenschaftlich diskutierte er Fragen der Zeichentheorie, und ebenso passioniert mischte er sich in Debatten über Populärkultur ein. Um diese zu verstehen, so sagte er einmal, müsse man sie lieben. Bissig kommentierte er Fragen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, mit Witz würzte er jede private Unterhaltung und die meisten seiner Reden. Er sammelte alte Bücher, und kurz vor seinem Tod gründete er noch einen neuen Verlag. Posthum erscheint jetzt sein letztes Buch „Pape Satàn Aleppe“. Umberto Eco ist am Abend des 19. Februars im Alter von 84 Jahren in seiner Mailänder Wohnung gestorben. Italien und die ganze kulturelle Welt trauert um einen großen Intellektuellen.
Vier Städte prägten sein Leben. Alessandria im Piemont, wo er am 7. Januar 1932 in einer kleinbürgerlichen Familie geboren wurde und aufwuchs. Das aufstrebende Mailand, wohin er nach dem Studium in Turin zog und seinen Lebensmittelpunkt fand. Die Universitätsstadt Bologna, wo er einen Doktorandenstudiengang für humanistische Studien aufbaute und bis zur Emeritierung 2008 Semiologie lehrte. Und schließlich Paris, die Kulturhauptstadt Europas, als eine Art Refugium.
Zusammen mit Luciano Berio und John Cage
Ein Philosophiestudium schloss Eco 1954 mit einer Doktorarbeit über die Ästhetik von Thomas von Aquin ab. Im selben Jahr nahm er in Mailand eine Stelle in der Kulturredaktion der RAI an. Die staatliche italienische Fernseh- und Rundfunkanstalt wurde damals noch nicht wie heute von einem römischen Wasserkopf beherrscht. Zur Mailänder RAI gehörte etwa das Studio für elektronische Musik (fonologia musicale), das Ecos Freund Luciano Berio ins Leben gerufen hatte, der auch John Cage oder Pierre Boulez zur Mitarbeit gewinnen konnte. Die lombardische Metropole zeigte sich in jenen Jahren als das kulturelle Zentrum Italiens, wo Giorgio Strehler und Dario Fo auf jeweils eigenen Wegen das Theater erneuerten, die Galerieszene boomte und Giangiacomo Feltrinelli einen Verlag gründete, der für viele junge Intellektuelle ein Bezugspunkt wurde.
In diesem fiebrigen Klima entwickelte Umberto Eco ein breitgefächertes Interesse, das von der mittelalterlichen Ästhetik über die Massenkultur bis zur Avantgarde reichte. Ihn prägten die Schriften der literarischen Moderne eines James Joyce (der damals noch nicht ins Italienische übersetzt war) wie die phantastischen Erzählungen eines Jorge Luis Borges. Belege findet man in einer Reihe von brillanten Kurzessays (Diario minimo), die auf Deutsch später unter dem Titel „Platon im Stripteaselokal“ erschienen. 1962 veröffentlichte Eco die wissenschaftlichen Abhandlung „Offenes Kunstwerk“ über die Rolle des Lesers. Der Text spielte auch in der Theoriediskussion der avantgardistischen „Gruppe 63“ eine wichtige Rolle, die von ihm, Nanni Balestrini, Edoardo Sanguineti und anderen gegründet wurde, sich aber nach wenigen Jahren wieder auflöste. Zu der Zeit hatte Eco bereits seine Stellung beim Fernsehen aufgegeben und war als Lektor für Sachbücher in den Mailänder Verlag Bompiani eingetreten. Hier lernte er auch die Frankfurter Designerin und Expertin für Kunstdidaktik Renate Ramge kennen, die er 1962 heiratete. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervor gegangen.
Ein kultureller Tausendsasa
Der traditionellen akademischen Welt war dieser kulturelle Tausendsasa suspekt. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten konnte er deshalb erst relativ spät mit 40 Jahren in Bologna die Ausschreibung für eine Ordinarienstelle gewinnen und den Lehrstuhl für Semiotik übernehmen. Die Semiotik beschäftigt sich mit Problemen der Bedeutung von Zeichen und Fragen der Kommunikation. Ecos Hauptthema war das Problem der Freiheit und des Missbrauchs der Interpretation von Zeichen und Zeichensystemen. 1975 erschien dazu sein „Entwurf einer Theorie der Zeichen“ – ein Standardwerk des Faches.
Das Thema der Erinnerung, das später auch in seinen Romanen eine große Rolle spielen sollte, wurde jetzt zentral. Und damit der Begriff Kultur, die sich mit der Erinnerung identifiziert. Fast gebetsmühlenhaft wiederholte er in Gesprächen: „Wenn man so will, ist die Bibliothek das Sinnbild von Kultur. Oder auch das Museum. Kultur ist Gedächtnis, Aufbewahrung von Begriffen der Vergangenheit, auch von den falschen.“ Dazu, so Eco, gehöre aber auch, dass man trennen muss zwischen wichtigen und unwichtigen Erinnerungen, dass man also vergessen können muss.
Wie der Gelehrte zum Literaten wurde
Auf der Suche nach neuen Herausforderungen, nach ungewöhnlichen Anwendungen seiner Theorien wurde der Gelehrte zum Literaten. Aber was konnte man von einem Umberto Eco schon erwarten? Einen Roman mit 600 Seiten über eine Klosterbibliothek, lateinischen Zitaten und Debatten über die Poetik von Aristoteles. Als er 1980 erschien, kalkulierte der Verlag optimistisch mit einer Auflage von rund 30.000 Exemplaren. Er sollte sich gewaltig verrechnen. Das Buch – „Der Name der Rose“ – wurde in fast hundert Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Es machte seinen Autor weltweit zum Star und wenn auch nicht reich, dann doch wohlhabend. Es hat lange gedauert, bis man verstand, dass dies nicht nur ein Roman über die Intoleranz des Mittelalters war, sondern auch ein in die Vergangenheit gerichteter Spiegel der Gewalt und des Fanatismus der vom Terrorismus geprägten 1970er Jahre Italiens.
In seinem zweiten Roman „Das Foucaultsche Pendel“ (1988) verfolgte Eco allerlei Verschwörungstheorien über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten. Der Philosoph war damit endgültig zu einem Literaten geworden, dem es darauf ankam, Vergangenheit zu besichtigen, dabei die Gegenwart zu befragen und Gestern wie Heute ironisch zu brechen. So wurden auch die folgenden Titel zu Bestsellern – was nicht hieß, dass jeder Käufer sie auch (zu Ende) las: „Die Insel des vorigen Tages“ (1994), „Baudolino“ (2000), „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ (2004) und „Der Friedhof von Prag“ (2010).
Bis zum eher kleinen Roman „Nullnummer“ (2014), dem vielleicht schwächsten Buch, weil es jeden historischen Tiefgang verlor und ganz in der Gegenwart angesiedelt wurde. Aber gerade in ihm kann man das typischen Eco’sche Augenzwinkern wiederfinden, das alle seine Arbeiten ausgezeichnet hat. In dem Sinne: Gewiss, die Sache ist ernst, aber ich nehme mir das Recht heraus, mich dabei nicht ganz so ernst zu nehmen. Im deutschen Sprachraum ließ sich der Erfolg dieser Bücher, die alle im Hanser Verlag erschienen waren, auch auf die Übersetzungskunst von Burkhart Kroeber zurückführen, der bald ein Freund der Familie Eco wurde.
Mit Begeisterung nahm er seine Rolle als Pädagoge wahr
Was sicherlich nicht ganz leicht war, denn Distanz gehörte zur Lebensphilosophie von Umberto Eco. Distanz nicht nur gegenüber einer Öffentlichkeit, die ihn nach dem Welterfolg von „Der Name der Rose“ am liebsten zu allen Fragen zwischen italienischen Alltagssorgen und intellektuellen Grundproblemen interviewen wollte. Distanz auch gegenüber seinen Lesern, die er besonders in seinen Romanen mit Zitaten, Exkursen, rätselhaft-ironischen Anspielungen auf Abstand hielt. Das war keine Literatur, die unter die Haut ging, sondern die mit dem Kopf aufgenommen werden wollte. Zugänglich zeigte er sich aber gegenüber seinen Studenten in Bologna, für die er immer ein offenes Ohr hatte. Hinter dem Weltruhm als Romanautor und vielfach ausgezeichneten Wissenschaftler (über 40 Universitäten verliehen ihm den Titel eines Ehrendoktors) nahm er versteckt und von vielen unterschätzt mit Begeisterung seine Rolle als Pädagoge wahr.
Umberto Eco war in der katholischen Jugendbewegung groß geworden, aber er wurde kein Parteigänger der Kirche. Im Gegenteil zeigt sich bald eine zunehmende Entfremdung sowohl gegenüber der Institution wie gegenüber dem Glauben. Politisch-gesellschaftlich engagierte sich der kritische Professor in jeder Lebensphase, doch ließ er sich dabei von keiner Partei oder politischen Gruppe vereinnahmen. Für die unabhängige kommunistische Tageszeitung Il manifesto schrieb er anfangs bissige Kommentare unter dem Pseudonym „Dedalus“. Seit 1985 nahm er im römischen Wochenmagazin L’Espresso in der Kolumne „La bustina di minerva“ (auf Deutsch teilweise unter dem Titel „Streichholzbriefe“ veröffentlicht) politische Vorgänge wie Alltagsfragen aufs Korn. Die letzte „bustina“ erschien Ende Januar anlässlich der Mailänder Hayez-Ausstellung über die Bild-Ikone „Der Kuss“ – ein Verriss.
Als die Berlusconi-Regierung Anfang der achtziger Jahre dabei war, Italien unter der Fahne des rechtsliberalen Populismus kulturell umzukrempeln, gründete er mit anderen Intellektuellen wie dem Germanisten Claudio Magris oder dem Physiker Giovanni Bachelet die Kulturvereinigung Libertà e Giustizia (Freiheit und Gerechtigkeit), die mit ihrem Namen an die bürgerliche antifaschistische Widerstandsbewegung „Giustizia e Libertà“ aus den 1940er Jahren anspielte. Dabei ging es Eco und seinen Mitstreitern um politisch-kulturelle Bildung, nicht um parteipolitische Propaganda. Es war ein Akt der Mobilisierung dessen, was man Zivilgesellschaft nennt.
In den langen Gängen seiner Mailänder Wohnung
Im hohen Alter ging Umberto Eco weiterhin vielfältigen Interessen nach, wenn auch der Lebensphase angemessen etwas geruhsamer. Er sammelte bibliophile Werke, über die er auch trefflich zu plaudern wusste. Er widmete sich einer Geschichte der Schönheit wie einer der Hässlichkeit, machte seine Manie, Register zusammen zu stellen, brillant zu Thema eines Essays („Die unendliche Liste“). Oder pflegte überhaupt seine mehrere zehntausend Titel umfassende Bibliothek, die er in den langen Gängen seiner Mailänder Wohnung und in den Räumen seines Landhauses bei Rimini aufgebaut hatte. Er war durchaus ein Genussmensch, liebte den Zigarillo wie den Whisky, und litt dementsprechend, wenn die Ärzte Verbote aussprachen. Auch dass er im Alter nicht mehr genug Atem hatte, auf Barockflöten zu spielen, von denen er eine prächtige Sammlung besaß, beschäftigte ihn.
Posthum erscheint jetzt „Pape Satàn Aleppe“
Im vergangenen Jahr wehrte er sich mit anderen Autoren gegen eine unmäßige Verlagskonzentration, nachdem Marktführer Mondadori die Buchverlage der bislang zweitgrößten Gruppe RCS-Libri geschluckt hatte – darunter auch Ecos „Hausverlag“ Bompiani. Mit seiner finanzieller Unterstützung entstand in Mailand der neue unabhängige Verlag „La Nave di Teseo“ – „Das Schiff des Theseus“. Natürlich war es Umberto Eco, der dem jüngsten Kind der italienischen Verlagswelt seinen Namen gab. Und selbstverständlich ist es ein Name mit Tiefgang. Geht es doch um das sogenannte Theseus-Paradoxon und die Frage, ob ein Gegenstand seine Identität verliert, wenn seine Einzelteile ausgetauscht werden. Hier wird jetzt posthum Umberto Ecos letztes Buch erscheinen, dessen Fahnen er gerade noch korrigieren konnte. Unter dem Titel „Pape Satàn Aleppe“ – einem ironischen Dante-Zitat – wird eine Auswahl seiner „Streichholzbriefe“ der letzten Jahre veröffentlicht. Der Verlag „La Nave di Teseo“ rief ihm in einem Tweet nach: „Addio Capitano“.
Umberto Eco erzählte einmal: „Wenn ich eines Tages ins Paradies kommen sollte und Gott treffen kann, habe ich zwei Möglichkeiten. Wenn es der rachsüchtige Gott des Alten Testaments ist, drehe ich mich um und gehe zur Hölle. Wenn es dagegen der des Neuen Testaments ist, also dann haben wir die selben Bücher gelesen und sprechen die selbe Sprache. Dann werden wir uns verstehen.“
In etwas kürzerer Fassung ist der Text auch in der Stuttgarter Zeitung sowie in der Basler Zeitung (jeweils am 22.2.16) erschienen.