In Erinnerung an Hans Belting (1935 -2023), Balzanpreisträger 2015, ein Gespräch über die Rolle von Kunstgeschichte, die Bilderwelt und den Wissenschaftsbetrieb
Bern/Mailand (2015) – Der deutsche Kunst- und Medienwissenschaftler Hans Belting ist einer von vier Preisträgern, die in diesem Jahr mit dem Premio Balzan ausgezeichnet wurden. Der äußerst umtriebige emeritierte Professor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe hat mit vielen Veröffentlichungen die internationale Debatte über Fragen der Kunst- und Medientheorie angestoßen und bereichert – aber auch für Widerspruch gesorgt. Dazu gehören Arbeiten wie „Das Ende der Kunstgeschichte“(1983/1995), die Fortschreibung unter dem Titel „Art History after Modernism“ (2003), „Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst“ (1990/2011), der Essayband „Bild-Anthropologie“ (2001/2004) oder zuletzt „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“ (2013). Am Rande der Preisübergabe in Bern gab es Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem 80jährigen Wissenschaftler.
Herr Professor Belting, der Balzanpreis hat ja italienische Wurzeln. Im deutsch-italienischen Kulturaustausch hat gerade der Abschluss der Edition Giorgio Vasari bei Wagenbach für Aufmerksamkeit gesorgt. Kommt diese Neuübersetzung mit den Einleitungen zu jedem Künstler und den aktualisierten Kommentierungen in einem gewissen Sinn Ihrer Forderung nach, Kunst wieder in das kulturelle Milieu einzubinden, in der sie entstanden ist? Stellt sie den Vasari gleichsam vom Kopf auf die Füße?
Hans Belting: „Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Denn er hat ja als Künstler geschrieben. Und Michelangelo hat ihm den Rat gegeben, nicht nur Kunst zu machen, wo er kein Held war, sondern über Kunst zu schreiben. Er hat natürlich einen unschätzbares Dokumentationswerk aufgebaut. Aber er war eigentlich interessiert an der Toskana, und seine Kunstgeschichte ist toskanisch. Das heißt, er berichtet auch etwas über andere Künstler am Rande, etwa aus Venedig. Aber das war für ihn der Kreis, den er überhaupt überblickt hat. Bis ins 19. Jahrhundert galt sein Modell mit der Toskana als Standard. Es ist faszinierend, dass Kunstgeschichte als ganz kleines, als regionales Unternehmen angefangen hat, aber mit dem Anspruch, die universale Kunstentwicklung zu sein. Ich habe in meinem viel zu oft zitierten Band „Das Ende der Kunstgeschichte“ einen zweiten Text mit dem Titel „Vasari und die Folgen“ veröffentlicht, in dem ich versucht habe, die Vasari-Rezeption darzustellen.“
Der deutsch-italienischen Kulturaustausch
In einem gewissen Sinne „regional“ ist auch die Herausgabe dieser neuen Vasari-Ausgabe, nämlich deutsch ohne italienische Beteiligung. Der Projektleiter Alessandro Nova ist zwar ein Italiener, doch kommt er aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb. Wie steht es um den deutsch-italienischen Kulturaustausch im Fach Kunstgeschichte, ist das auch mit deutschen Instituten in Florenz und Rom nicht eher eine Einbahnstraße?
Belting: „Das kann man so sehen. Vor zwei Jahren fand in Rom in der Accademia dei Lincei eine Tagung statt, wo die Frage nach Warburg und der ‚arte straniera‘, der ‚ausländischen Kunst‘ gestellt wurde. Ich habe dort gesagt: Es gibt heute in Europa keine ‚arte straniera‘ mehr, wir sind alle europäisch und alles ist miteinander verflochten. ‚Arte straniera‘ liegt, wenn überhaupt, ganz woanders. In Italien gibt es in meinem Fach Kunstgeschichte ein Problem, weil die ‚estetica‘, die Ästhetik, als Fach an Boden gewonnen hat gegenüber der ’storia dell’arte‘. Wenn ich in Italien eingeladen werde, dann werde ich von den Literaturwissenschaftlern, von den Philosophen oder den Vertretern des Fachs Ästhetik eingeladen, die Kunst zu einem ihrer zentralen Themen gemacht hat.“
Der Balzanpreis ist einer der ganz wenigen internationalen Kulturpreise, der sowohl Persönlichkeiten der Geistes- wie der Naturwissenschaften prämiert. Zu Vasaris Zeiten emanzipierten sich die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften, die vorherrschten. Heute geben die Naturwissenschaften den Ton an. Müssen sich die Geisteswissenschaften und unter ihnen besonders die Kunstgeschichte heute gesellschaftlich rechtfertigen?
Belting: „Die Geisteswissenschaften rotten sich ja auch zusammen. Es gibt heute viel mehr Interdisziplinarität als je zuvor. Im 19. Jahrhundert haben sich die Geisteswissenschaften sozusagen selber gesucht, die einzelnen Fächer. Heute arbeiten sie wieder zusammen, weil unsere memoria, unser Kulturbegriff zur Disposition steht. Das werden die Geisteswissenschaften leisten müssen, dass sie unseren Kulturbegriff lebendig erhalten.“
Zwischen Kunstgeschichte und Bildfragen
Auf welchen Feldern kann denn die Kunstgeschichte eine Rolle für die Gesellschaft spielen? Etwa auf dem der Bildkritik?
Belting: „Mein eigens Berufsbild ist seit 20 Jahren doppelgleisig. Auf der einen Seite beschäftige ich mich weiterhin mit Kunstgeschichte. Auf der anderen Seite haben Bildfragen bei mir eine vollkommen selbstständige Rolle ohne den Kunstbegriff gewonnen. Ich habe 2001 die Bild-Anthropologie herausgegeben, die in Italien unter dem Titel ‚Antropologia delle immagini‘ erschienen ist. Für mich ist das sehr fruchtbar, dass ich mich mit zwei Feldern beschäftige, die unabhängig voneinander existieren und trotzdem in starkem Austausch sind. Für mich ist es ein Gewinn, dass ich mich mit Bildern auch ohne Kunst im allgemeinsten Sinne beschäftigen kann.“
Aber ist da der Kunstbegriff nicht zu eng? Früher wurden doch Bilder auch aus ganz bestimmten Gründen gemalt und nicht weil sie Kunst sein wollten, so wie heute Bilder auf Youtube gestellt werden ohne Kunstanspruch?
Belting: „Es gibt sehr viele Verbindungen zwischen der Kunst und der Bilderwelt. Aber die Bilderwelt im Fernsehen usw., das ist eine eigene Bilderwelt geworden, die kann man nicht mehr unter dem Kunstbegriff abhandeln. Und trotzdem ist das Bildermachen der Menschheit hoch interessant. Ich habe in „Bild und Kult“ eine Lanze gebrochen für eine Bildergeschichte vor dem Zeitalter der Kunst, das für mich mit der Renaissance beginnt und nicht vorher. Also, das ist sehr polemisch gewesen damals, aber es ist unglaublich rezipiert worden, hat ganze Diskussionsfelder angeregt. Das befriedigt mich, dass ich Kunstgeschichte und Bildgeschichte, Werkgeschichte und Mediengeschichte trennen kann. Ich bin oft beschuldigt worden, die Kunstgeschichte gegenüber einer Bildgeschichte verraten zu haben. Aber das sind für mich parallele Fragen, also verschiedene Methoden, verschiedene Themen.“
Für eine neue Kunstgeschichte
So wie das „Ende der Kunstgeschichte“ kein Aufruf war, die Kunstgeschichte zu begraben, sondern sie neu zu begründen?
Belting: „Ja so ist es. Und das ist in vielen Übersetzungen, in Kommentaren auch so angekommen. In China gibt es eine drei Mal so dicke Ausgabe mit den ganzen chinesischen Kommentaren dazu. Dort wird es Einladung verstanden: Kommt bitte zu uns, ich erkläre euch, wie das funktioniert mit der Kunstgeschichte bei uns, und ihr könnt sehen, was ihr davon braucht und was ihr dazu fügt. Als Einladung ist das verstanden worden, nicht: Türen zu. Ich höre immer wieder: viele Ihrer Kollegen in Europa machen die Tür zu, kein Bedarf. Und ich mache sie weit auf und sage: kommt rein, es ist alles verständlich, das ist keine Religion.“
Der Balzanpreis ist finanziell gut ausgestattet, nach dem Nobelpreis ist das vermutlich einer der höchst dotierten Wissenschaftspreise. Zur Rolle des Geldes im Wissenschaftsbetrieb: Man hört immer die Klage, es wird zu wenig finanziert. Aber besteht auch nicht umgekehrt die Gefahr einer Einflussnahme über die Vergabe mit Mitteln? Muss der Wissenschaftsbetrieb etwa für die Kunstgeschichte in diesem Sinne „ärmer“, gleichsam „franziskanisch“ werden, um das Neue zu suchen und nicht dem Mainstream zu folgen?
Belting: „Darauf habe ich hier in Bern gerade bei einer Debatte mit den Preisträgern hingewiesen, dass wir nämlich in Karlsruhe an der Hochschule für Gestaltung so wenig Geld hatten damals, dass es bei unseren Verteilungsfragen keine Probleme gab. Wir waren auf uns selber gestellt. Solange ich noch auf der Universität war, die ich ja vorzeitig, 15 Jahre vor meiner Emeritierung verlassen habe, da hatten wir nur das Geld zur Lehre. Forschung war individuell und jeder musste sehen, was er in seiner Freizeit mit Forschung machte. Heute ist viel Geld da, aber das ist auch eine Gefahr.“
Die Entstehung des Kunstbegriffs
Die Hälfte das Balzanpreises, der mit 750 000 Schweizer Franken dotiert ist, soll Projekten mit jungen Wissenschaftlern zu Gute kommen. Was planen Sie?
Belting: „Ich habe mit verschiedenen Institutionen in Berlin, Utrecht, vor allem in Brünn in der Tschechischen Republik jetzt Kontakte aufgebaut, die zum Teil interdisziplinär laufen. Was mich sehr interessiert für die Bilderfrage, ist die Religionswissenschaft. Nicht die Theologie, sondern ein ganz anderes Projekt, wo viele interessante Ansätze zu den Bildern in den verschiedensten Religionen vorhanden sind. Das fasziniert mich sehr von meinen eigenen Forschungen her. Dann möchte ich mit anderen Fächern Kontakte aufbauen. Zum Beispiel mit der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz der FU Berlin, wo ich Fellow bin, und ich hoffe da eine neue Dynamik in die Bilderfrage einzubringen. Das ist also wieder eine Bilderfrage. Die Kunstfrage ist: Was passiert eigentlich im religiösen Bild des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, wo plötzlich der Kunstbegriff auftaucht wie ein Torpedo und die Bilder verändert. Plötzlich entstehen Kunstsammlungen und Kunsttheorien. Also, was ist das eigentlich, der Kunstbegriff, der zunächst mitten im religiösen Bild auftaucht, aber eine Differenz dazu ausdrückt? Das ist so eine Frage, die ich hoffe, mit Nachwuchswissenschaftlern diskutieren zu können, dass wir heute die Entstehung des Kunstbegriffs verstehen.“
Weil er heute in der Krise ist?
Belting: „Das ist eindeutig. Jeder redet davon, es gab noch nie so viele Künstler, es gab auf dem Markt noch nie so hohe Preise. Trotzdem ist der Kunstbegriff selber ins Ungewisse abgedriftet.“
Es genügt ein Blick auf die Konfusion der Biennalen?
Belting: „Das ist der Punkt. Wir müssen uns heute über den Kunstbegriff neu klar werden: wie ist er entstanden, was beinhaltet er, was eigentlich ist Kunst. Ich wurde immer wieder gefragt nach den Bildern nach dem Ende der Kunst. Also, von dem Ende der Kunst rede ich nicht gerne, weil das ist nicht ausgemacht. Aber die Frage, was ist Kunst, sollte eine wichtige Frage im Westen sein, damit wie sie auch anderen Kulturen erklären können.“
Danke für das Gespräch.
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Die Balzanpreise wurden am 13. November in Bern übergeben. Neben Hans Belting im Fach Geschichte der Europäischen Kunst wurden ausgezeichnet:
Francis Halzen (Belgien/USA) für Astroteilchenphysik,
David Michael Karl (USA) für Ozeanographie
und Joel Mokyr (USA/Israel) für Wirtschaftsgeschichte.
Im kommenden Jahr 2016 werden Preise vergeben in den Fächern Vergleichende Literaturwissenschaft, Internationale Beziehungen, Molekulare und zellulare Neurowissenschaften sowie Angewandte Photonik. Die Balzan Webseite (www.balzan.org) informiert über den aktuellen Stand der Umsetzung der Balzan Forschungsprojekte.
Siehe auch: Der Balzanpreis macht von sich reden