„WIE SCHWER ES IST, SCHWARZ ZU SEIN“


Die 18. Internationale Architekturbiennale „The Laboratory of the Future” stellt in Venedig Afrika in den Mittelpunkt und setzt sich mit Fragen der Dekarbonisierung wie der Dekolonisierung auseinander. Kritiker beklagen eine Architekturbiennale ohne Architektur.

© Cluverius

„Kwaeε“ pyramidischer Raum zum Meditieren wie zum Projektieren von David Adjaye (Accra, London, New York) am alten Hafen des Arsenale

Venedig/Mailand – Die 18. Internationale Architekturbiennale, die noch bis Ende November zu besichtigen ist, will eine Biennale des Umbruchs sein. Keine Schau, keine Präsentation des Bauens und Planens mehr, wie wir heute leben, sondern eine Werkstatt der Ideen, der Kritiken, der Erinnerungen, um über das Leben morgen nachzudenken. Ein „Labor der Zukunft“, so der Titel, den die schottisch-ghanesische Kuratorin Lesley Lokko ihrer Biennale gegeben hat. Die 59-jährige Architekturtheoretikerin verzichtet dabei auf bekannte Namen, sie setzt auf junge Teilnehmer und Teilnehmerinnen – Durchschnittsalter: 43 Jahre – und rückt zum ersten Mal in der Geschichte der Biennalen Afrika in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Vieles ist anders in diesem Jahr, was allerdings die Ausstellungsbereiche (Arsenale, Giardini, weitere Orte im Zentrum Venedigs) angeht, hält sie sich jedoch an die übliche Aufteilung.

Alle, die zu dieser Biennale eingeladen wurden, betont Lesley Lokko, „bringen die Position derjenigen zum Ausdruck, die mehr als eine Identität haben, mehr als eine Sprache sprechen und von Orten außerhalb des Zentrums kommen.“ Sie spricht vom „practitioner“, vom „Praktiker“ anstatt von Architekten oder Stadtplanerinnen, Designern oder Landschaftsarchitektinnen, weil „die komplexen Bedingungen einer sich rasch hybridisierenden Welt ein breiteres und vielfältigeres Verständnis des Begriffs ‚Architekt‘ erfordern.“

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„Säule der Identität“ aus schwarzem Marquina-Marmor (Studio Barnes, Miami)

Was das bedeutet, lässt sich an zwei Installationen dieser Biennale zeigen. Eine gedrungene, aus einem einzigen Stück schwarzem Marquina-Marmor geschnittene Rundsäule steht am Anfang des Rundgangs durch das Arsenale. Ihre Außenhaut wirkt wie ein Haargeflecht aus Dreadlocks. Die Säule gehört zu einer Installation über „Griots“, über westafrikanische Erzähler der Oral History. Als „Säule der Identität“ soll sie Abstammung, Kultur, aber auch Diaspora symbolisieren. Eine Art rund 2,70 Meter hohes Ausrufezeichen mit einem Durchmesser von 1,20 Meter: Bevor die westliche, die griechisch-römische Zivilisation eine Säulenordnung (dorisch, ionisch, korinthisch) propagierte, gab es die Säulentechnik in der Architektur bereits in (Nord-) Afrika. Der Afroamerikaner Germane Barnes, der ein Studio in Miami (USA) leitet, sagt über seine Schöpfung in einem Interview: „Mit einem Gewicht von drei Tonnen, 6.000 Pfund, ist sie ziemlich robust. Sie zeigt, wie schwer es ist, schwarz zu sein.“

Die Auswirkungen des kolonialen Erbes

Den „Goldenen Löwen“ für den besten Einzelbeitrag erhielt die Gruppe DAAR, die von Sandi Hilal (Palästina) und Alessandro Petti (Italien) gebildet wird. Die beiden 50-Jährigen hatten sich vor Jahren beim Architekturstudium in Venedig kennengelernt und unterrichten heute an schwedischen Universitäten. Ihre Installation geht von der Fassade eines Verwaltungsgebäudes auf einem sizilianischen Latifundium (1940) in Borgo Rizza (Siracusa) aus. Eine Fassadenform, die auch in den nordafrikanischen Kolonien Italiens zum Einsatz kam. Mit ihrer Zerlegung zu mehreren neu zusammengesetzten Modulen als Sitzflächen ist eine Plattform entstanden. Das Publikum wird eingeladen, auf ihr anlässlich des Wiederauftauchens faschistischer Ideologien in Europa die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des kolonialen Erbes zu diskutieren. Die künstlerische Forschungspraxis von DAAR bewegt sich zwischen Architektur, Kunst, Pädagogik und Politik. Ihr Name ist bereits Programm. Das Akronym steht für „Decolonizing Architecture Art Residency“ (Entkolonialisierung von Architektur Kunst Residenz).

© Jacopo Salvi/Courtesy La Biennale di Venezia

Lesley Lokko, Kuratorin der 18. Biennale Architettura 2023, in Schottland in einer Familie aus Ghana geboren,

Die von Lesley Lokko eingeladenen „practitioniers“ widmen sich also weniger der architektonischen Gestaltung oder der Kultivierung von Gebäuden und Landschaften, sondern untersuchen in vielen kleinen Projekten die Bedingungen, die Voraussetzungen von Architektur. Untersuchungen, die sich besonders im Fall Afrika und der afrikanischen Diaspora den Wurzeln der Geschichte zuwenden und Fragen der (De-)Kolonialisierung wie des nachhaltigen Umgangs mit Boden und Materialien nachgehen. Eine „Architekturbiennale ohne Architektur“ kommentierte bissig Patrik Schumacher vom Studio Hadid. Mikrogeschichten auch über Arbeitsbedingungen, Lieferketten oder Wohnungsnot verbinden sich oft mit eher künstlerischen Installationen, Videos oder Performances ­– und nicht immer korrespondiert die gute Absicht mit einem überzeugenden Resultat. Manchmal hat man den Eindruck, als wenn Dekarbonisierung und Klimaschutz allein auf den Rücken von Architektinnen und Architekten lasten. Wobei viele der präsentierten Praktiker und Paraktikerinnen einen Fuß (eine Identität) in Afrika oder im globalen Süden haben – aber ein Studio in den USA oder in Europa.

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Verschüttete Geschichte(n): gestickte Darstellungen aus dem Amazonasgebiet (Estudio A0, Quito)

Afrika ist gerade auch architektonisch ein Kontinent im Aufbruch. Die Bevölkerungszahl von gegenwärtig 1,4 Milliarden Menschen könnte sich bis 2050 verdoppeln. Und wie überall auf der Welt werden es vor allem Städte sein, die Raum und Räumlichkeiten für diese Menschen bereitstellen sollen. Bereits jetzt wird der Schwarze Erdteil von großen Infrastrukturprojekten zumeist unter chinesischer Finanzierung überzogen. Es wird gebaut, was das Zeug hält. In der Regel kommt Beton als Baustoff zum Einsatz und naturbasierte Stadtentwicklung sucht man meist vergebens. Doch von all dem ist auf dieser Afrika gewidmeten Biennale nichts zu erfahren. So als wollte sich die Kuratorin bei ihrem Nachdenken über Zukunft und Wertvorstellungen nicht von der Realität ablenken lassen.

Gegen eine einseitige Architekturgeschichte

Ihr „Laboratory of the Future“ will mit einer „einseitigen Architekturgeschichte“ brechen. In einigen Länderpavillons wird das aufgenommen. Brasilien thematisiert zum Beispiel die Vertreibung der indigenen Bevölkerung beim Bau der Landeshauptstadt Brasilia ­­– und wurde dafür prompt von der Biennalejury unter der Leitung von Lesley Lokko mit einem goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet.

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Mit elegante Rampe aus Altmaterial: der deutsche Pavillon im Zeichen der Nachhaltigkeit

Fragen der Nachhaltigkeit werden bereitwillig aufgenommen. Mit dem Thema „Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet“ setzt sich die kollektive Leitung des deutschen Pavillons  (bestehend aus einem Redaktionsteam der Zeitschrift ARCH+, dem Architekturbüro Summacumfemmer und dem Büro Juliane Greb) kritisch mit der Materialverschwendung in der Architektur (aber auch der Biennale selbst) auseinander.  So wurden vor allem Holzteile von Einrichtungen der Kunstbiennale 2022 gesammelt und deutsch ordentlich nach Farben und Größen sortiert – der Pavillon als Lager zur Wiederverwertung. Unter anderem wurde aus diesen Resten eine geschwungene Rampe zur Überwindung der Eingangstreppe konstruiert, was dem als „Nazibau“ verrufenen monumentalen Gebäude eine überraschend spielerische Note gibt.

Begegnungskultur durch Natur

Einen nur auf den ersten Blick überraschenden Zugang zur Architektur greifen der polnische wie der israelische Pavillon auf. In ihnen geht es um die Physis der Daten der allgemein als „Cloud“ beschriebenen digitalen Netze, die aber nicht frei durch die Luft schwirren, sondern an Speicher gebunden sind, die in für sie konstruierten Gebäuden Platz finden. Im Gegenschnitt dazu steht schließlich der Beitrag des Heiligen Stuhls, der wie einige der 64 Länderbeiträge außerhalb der Ausstellungsflächen der Biennale untergebracht ist. In den Gärten der Abtei San Giorgio Maggiore geht es mit Holzskulpturen des portugiesischen Architekten Álvaro Siza um Begegnungskultur. Sich weltweit der Pflege des Planeten zu widmen, indem man bei der Kultivierung von Städten und Landschaften Räume für die Begegnung für sich selbst und mit dem Nächsten schafft, das ist vielleicht der wichtigste Zukunftsauftrag, den man von dieser Biennale mit nach Haus nehmen kann.

18. Internationale Architekturbiennale „The Laboratory of the Future”, Venedig (Giardini/Arsenale u. a. Orte) bis 26. 11., tgl. außer Mo. 11-19 Uhr (ab 1. 10.: 10-18 Uhr). Eintritt: 25 Euro. Kurzführer 18,- Euro, Katalog 80.- Euro. Info: labiennale.org/en/architecture/2023

Deutscher Pavillon „Open for Maintenance. Wegen Umbau geöffnet“. Info und Programm: archplus.net/de/open-for-maintenance/

Ein ähnlicher Beitrag ist in der Stuttgarter Zeitung am 8. August 2023 erschienen

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Anklage: Wandteppich gegen fast fashion gestüzt durch einen „rassischen Kapitalismus“. („Obromi Wa’awu'“ von Lauren-Pois Dual, Mühlhausen/London)