INDUSTRIELLER HUMANISMUS


Der Pirelli HangarBicocca in Mailand zwischen Produktion und Kultur: das Erfolgsmodell einer privaten Ausstellungseinrichtung

© Cluverius

Mailand im Norden: Eingang zum Pirelli HangarBicocca

 

Mailand – Diese teilweise über 30 Meter hohen Räume muss man erst einmal auf sich wirken lassen. Mit insgesamt 15.000 Quadratmeter ebenerdiger Ausstellungsfläche in einer ehemaligen Industrieanlage am nördlichen Stadtrand von Mailand gilt der Pirelli HangarBicocca als eine der größten Ausstellungseinrichtungen für Gegenwartskunst in Europa. Die Nonprofit-Kulturstiftung wurde 2004 gegründet, als der Pirelli-Konzern Werkhallen einer früheren Lokomotivfabrik aufkaufte, um hier Raum für Anselm Kiefers monumentale Installation „Sieben Himmlischen Paläste“ zu schaffen: Zwischen 14 und 18 Meter hohe Betontürme, die, wenn man sie so lesen will, nach der (Selbst-)Zerstörung der westlichen Zivilisation gleichsam neue Wege zum Göttlichen suggerieren. Ab 2015 wurde die Installation mit großflächigen Gemäldearbeiten Kiefers wie die „Die Deutsche Heilslinie“ ergänzt.

© Cluverius

„Himmlische Paläste“ und großflächige Gemälde von Anselm Kiefer

Parallel dazu begann sich das früher vornehmlich von Pirelli industriell genutzte Bicocca-Viertel nach der Auslagerung der Produktionsanlagen unter der architektonischen Planung von Vittorio Gregotti in eine lebendige Vorstadt zu entwickeln. Hier fanden u. a. eine neue staatlichen Universität, private Forschungseinrichtungen, Firmensitze, Wohnungen, Geschäfte und Cafés ebenso Platz wie ein Theaterbau, der dem Teatro alla Scala Jahre lang während der Umbauarbeiten ihrer traditionellen Bühne als Ausweichquartier diente. Der HangarBicocca als weiteres kulturelles Highlight des Viertels, so der Generalmanager Alessandro Bianchi im Interview mit dem Informationsdienst Kunst, war bei seiner Gründung vor fast zwanzig Jahren „Ausdruck eines industriellen Humanismus“ des Pirelli-Konzerns, der sich in Kiefers Stahl- und Bleikonstruktionen manifestierte.

Herausforderung wie Chance für Künstler und Kuratoren

Richtig lebendig wurde die Kultureinrichtung aber er erst ab 2012, als man sie zu einem Ausstellungszentrum mit allen entsprechenden Einrichtungen von eigenen Verlags- und Forschungsabteilungen über didaktische Initiativen, Bookshop bis zu Bar/Restaurant ausbaute und (nach inoffiziellen Angaben) mit 3,5 Millionen Euro jährlich unterstützt. Als künstlerischer Leiter wurde der Spanier Vicente Todolí von der Londoner Tate abgeworben, der mit seinem Kuratorenteam seitdem die Wechselausstellungen (drei, vier pro Jahr) konzipiert. Wobei er konsequent auf Retrospektiven site-specific setzt, die in enger Zusammenarbeit mit den Künstlern und Künstlerinnen Verbindungen zu den (neben der Kiefer-Halle) teilweise immensen räumlichen Möglichkeiten sucht ­– Herausforderung wie Chance für Künstler und Kuratoren.

© Cluverius

Tanz der Objekte und Lichter: Ausstellung Ann Veronica Janssens „Gran Bal“

„Ausstellungen im HangarBicocca zu machen, bedeutet für mich auch, den Künstlern einmalige Gelegenheiten zu bieten, mit dem Raum zu arbeiten und Eigenschaften und Eigenheiten ihrer Arbeiten hervorzuheben“, erläutert Vicente Todolí im Gespräch. Es sind deshalb vor allem etablierte und historische Künstler und Künstlerinnen, auf die er setzt. So sind auf ihre Art „unwiederholbare“ (Todolí) Ausstellungen u. a. über und teilweise mit Ragnar Kajartansson und Joan Jonas, Carsten Höller, Cerit Wyn Evans oder Steve McQueen entstanden. Gerade zu Ende geht eine Retrospektive der in Brüssel lebenden Amerikanerin Ann Veronica Janssens (bis 30. 7.). Dazu zeigt in dem „intimeren“ Raum des sogenannten Shed (1.500 Quadratmeter), der nach Todolí jüngeren Künstlerinnen und Künstlern der „mid-carreer“ vorbehalten bleibt, der Italiener Gian Maria Tosatti Gemälde auf Eisen- oder Grafitgrund. Im September folgt Thao Nguyen Phan mit „Reincarnations of Shadows”. Die Ausstellungen des Hangars entstehen oft in Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen wie zuletzt die von Bruce Naumann mit der Londoner Tate Modern und dem Amsterdamer Stedelijk Museum. Internationalen Verknüpfungen vom Pompidou Paris bis zum Moderna Museet Stockholm und der Neuen Nationalgalerie Berlin auf- und auszubauen, gehört zum DNA des Hangars – und zu seiner Erfolgsgeschichte.

© Cluverius

Begleithefte zu den Ausstellungen auf Italienisch oder Englisch – gratis wie der Eintritt

Die Aufgabe des HangarBicocca sei es, so Vicente Todolí, „Wissen zu produzieren und Gegenwartskunst allen zugänglich zu machen.“ Und der Generalmanager Alessandro Bianchi ergänzt: „Um das zu erreichen müssen wir ein breiteres Publikum als die Fachbesucher ansprechen und uns heranziehen.“ Das Motto lautet: #Art to the people. Barrieren müssen abgebaut ­– der Eintritt ist gratis – , didaktische Unterstützung angeboten, Kinder einbezogen werden. Lesungen, Musik- und Tanzdarbietungen locken zudem ein „anderes“ Publikum an, das auf diese Weise in Kontakt mit internationaler Gegenwartskunst kommt.

Stimulieren statt unterhalten

„Wer einmal bei uns war“, so Bianchi, „kommt in Vertrauen auf die Qualität des HangarBicocca wieder, auch wenn er den Künstler der nächsten Ausstellung gar nicht kennt.“ Mithilfe einer Spezialsoftware wie dem CRM (Customer-Relationship-Management) hat man inzwischen eine „Kundenkartei“ von 120.000 Personen aufgebaut. Und mit im Schnitt 3.500 bis 4000 Besuchern die Woche sei man auf einem erfolgreichen Weg, „der aber noch ausgebaut werden kann.“ Wichtig sei jedoch: „Wir wollen die Leute nicht unterhalten, wie wollen sie stimulieren.“

© Cluverius

“Efêmero” – Graffito von Os Gêmeos (die Brüder Gustavo e Otávio Pandolfo aus Brasilien) auf der Rückwand des HangarBicocca

Der Reifenhersteller Pirelli, Hauptsitz Mailand, der kürzlich den 150. Jahrestag seines Bestehens feiern konnte, ist heute ein internationales Unternehmen (mit chinesischer Mehrheitsbeteiligung) und Produktionsstätten in aller Welt. Der Mailänder Marco Tronchetti Provera, CEO von Pirelli, ist ebenfalls Präsident des HangarBicoccas. Diese personelle Nähe zum Mutterkonzern, so der Generalmanager Bianchi, sichere zugleich die Unabhängigkeit der Kultureinrichtung. Der Hangar sei ein Privatunternehmen und in seiner künstlerischen Programmpolitik völlig unabhängig vom Pirelli-Marketing. Dass er dennoch zu einem positiven Pirelli-Image beitrage, bleibe unbestritten. Das kulturelle Engagement des Konzerns sei also einerseits ethisch anderseits „unternehmenspolitisch“ begründet. Der HangarBicocca ist zugleich ein Schulungsraum für Pirelli-Mitarbeiter, die hier in Kursen „keine Kunstgeschichte lernen, sondern sich damit auseinandersetzen, wie Kunst Organisationsmodelle und Arbeitsprozesse beeinflussen kann.“

Über das, was man im Zweijahresplan 2024/2025 ­– zwanzig Jahre nach der Gründung des Pirelli HangarBicocca ­– zu sehen bekommen wird, schweigen sich die Verantwortlichen noch aus. Bis auf den Hinweis, die Nan Goldin Ausstellung „This Will Not End Well“ werde am Ende ihrer Europatour (Stockholm, Amsterdam, Berlin) nach Mailand kommen, wo sie dann in den hohen Hallen des Hangars ganz eigenständige Beziehungen zu den Räumen der Industriegeschichte aufbauen kann.

Info: pirellihangarbicocca.org

Eine gekürzte Fassung des Textes ist im „Informationsdienst KUNST“ 782 (Berlin) vom 27.7.23 erschienen.