SAPPHISCHE KÜSSE


Zwischen Mobiltelefon und Zombie-Ballett: Ernste Opern – nicht alle ganz ernst genommen – sowie große Stimmen auf dem Rossini Opera Festival. Im nächsten Jahr kehrt u. a. „Il barbiere di Siviglia“ zurück.

© Amati Bacciardi/ROF

Hosenrolle: Arsace (Raffaella Lupinacci) und Zenobia (Sara Blanch) – Liebespaar im Aureliano in Palmira

Pesaro/Mailand (bis 23. 8.) – Das 45. Rossini Opera Festival (ROF) der Adriastadt Pesaro steht in diesem Jahr ganz im Zeichen des „ernsten“ Rossini. Neben der Neuproduktion „Adelaide di Borgogna“ und der zum ersten Mal vom ROF aufgeführten Inszenierung von „Eduardo e Cristina“ wurde eine Wiederaufnahme des „Aureliano in Palmira“ gezeigt. Dazu Konzertabende wie die „Cantata in onore del Sommo Pontefice Pio IX” oder die „Petite messe solennelle”. So als wollte man das große Verdienst des Festivals unterstreichen, das von Beginn (1980) an die verschüttete Tradition von Rossini als Komponisten der Opera seria wieder aufleben ließ. Und damit weltweit eine Rossini-Renaissance auslösen konnte. Zuvor war die Rezeption des  „Schwans von Pesaro“ auf wenige Werke der Opera buffa („Il barbiere di Siviglia“, „L’italiana in Algeri“) beschränkt geblieben.

Das ROF lebt von einer überzeugenden Formel: Aufführungen nach den strengen musikalischen Vorgaben der musikkritischen Edition der Fondazione Rossini bei absoluter Freiheit der Regie, sie in Szene zu setzen. In Folge der von Alberto Zedda parallel zum Festival gegründeten und – von ihm bis zu seinem Tod 2017 geleiteten­ – weiterhin aktiven Gesangsakademie kann das ROF auf einen Stamm von im Belcanto ausgebildeten Stimmen zurückgreifen, die auch in diesem Jahr das Publikum begeisterten und die Kritik überzeugten. Darunter Olga Peretyatko (Sopran) in der „Adelaide”, Sarah Blanch (Sopran) im „Aureliano” oder Daniela Barcellona (Mezzosopran) und Enea Scala (Tenor) in „Eduardo e Cristina”. Und ein in Pesaro groß gewordener Star wie Juan Diego Flórez prägt heute als künstlerischer Leiter zusammen mit dem Intendanten Ernesto Palacio – auch er ein ausgebildeter Tenor und viele Jahre Manager von Flórez – das ROF.

© Amati Bacciardi /ROF

Adelaide di Borgogna: Iroldo (Valery Makarov) führt Adelaide (Olga Peretyatko) zur Hochzeit mit Kaiser Otto 

Die Belcanto-Oper, die mit Rossini in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen letzten Höhepunkt erlebte, geht auf die Barockzeit zurück, als die Stimmlage der Figur noch nicht im Zusammenhang mit einer natürlichen (männlichen oder weiblichen) Geschlechterrolle verstanden wurde. Seinerzeit wurden Männerstimmen für Nebenrollen eingesetzt, die Hauptpartien, in der man hohe Stimmlage wünschte, in der Regel von Kastraten gesungen. Mit dem Ende der Kastraten und als Frauen die weiblichen und Männer die männlichen Rollen übernahmen, hielten sich dennoch in der auslaufenden Belcanto-Tradition eine Reihe von „Hosenrollen“, wie sie auch Rossini oft einsetzte.

Rollenspiele

Heute betonen Regisseure wie Mario Martone im Aureliano oder Arnaud Bernard in der Adelaide gender-offene Liebespaare mit sapphischen Küssen. Wohingegen Stefano Poda bei der Hosenrolle des Eduardo zu seiner geliebten Cristina über das Rollenspiel hinweg geht.

© Amati Bacciardi / ROF

Als Theaterprobe inszeniert: Finale mit Adelaide (Olga Peretyatko) und Ottone (Varduhi Abrahamyan) – mit dem Handy dokumentiert

Unter den Regiearbeiten zeigt sich besonders der Franzose Arnaud Bernard experimentierfreudig, indem er den „ernsten“ Rossini nicht ganz ernst nimmt. Die Geschichte von Adelheid von Burgund, die sich im Frühmittelalter als junge Witwe eines italienischen Königs von lokalen Despoten bedroht sieht und von Kaiser Otto I. nach einem Italienzug unterstützt und schließlich zu seiner Frau gemacht wird, inszeniert er mit einer durchaus komischen Rahmenhandlung als Theater im Theater. Das ist nicht neu, funktioniert aber bis bin zum Einsatz von Mobiltelefonen, mit den sich die Darsteller im Finale selbst filmen.

Mal serio, mal buffo – die Selbstzitate von Rossini

Die fragwürdige Qualität der Libretti, über die sich Rossini oft lustig gemacht hat, verblasst um so mehr, je strahlender der Komponist sie mit Musik gleichsam zudeckt. Wobei er sich gerne selbst zitierte und alten Einfällen eine neue Form gab. Die Ouvertüre vom dramatischen Aureliano übernahm er wenig später sogar von der ersten bis zur letzten Note im heiteren Barbiere di Siviglia. Wer sie heute hört, käme nie auf den Gedanken, dass sie zunächst für eine ernste Oper komponiert worden wäre.

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Eduardo e Cristina: Die vom Vater Carlo verstoßene Königstochter Cristina (Anastasia Bartoli) und Tänzer

Als der Komponist in Venedig vom Impresario zur Rede gestellt wurde, weil er in Eduardo e Cristina größtenteils Kompositionen aus anderen seiner Opern übernommen hatte, soll er (nach Stendhal) geantwortet haben: „Was habe ich dir versprochen? Musik, die Beifall findet. Diese hier war erfolgreich, e tanto basta.“ Eduardo e Cristina ist nicht zuletzt wegen des absurden Librettos – eine wüste Liebes- wie Kriegsgeschichte am von Russen bedrohten schwedischen Königshof in Stockholm – ein trotz der Rossini-Renaissance äußerst selten gespielte Oper. In Pesaro wurde sie jetzt auf der Grundlage der gerade erstellten kritischen Edition zum ersten Mal für das ROF inszeniert. Die Deutsche Rossini Gesellschaft hatte sich vor der endgültigen wissenschaftlichen Erschließung zweimal auf dem Festival in Wildbad mit ihr abgemüht – in szenischer Form 1997, konzertant noch einmal 2017.

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Der König (Enea Sala) und die „Zombies“ in Eduardo e Cristina

Die Inszenierung des ROFs von Eduardo e Cristina bestach durch die stimmliche Kraft der Protagonistinnen Daniele Barcellona und Anastasia Bartoli. Fürsprecher wie Kritiker fand der Regieansatz durch Stefano Poda, der zugleich für Kostüme, Bühne und Licht sorgte. Poda nahm die Oper vielleicht zu ernst und inszenierte sie auf dem Hintergrund eines Schlachtfeldes mit Beinhaus als düstere Liebesgeschichte in Zeiten des Krieges (mit einem „Zombie-Ballett“ eingeschlossen).

Die Zukunft des Festivals: Work in progress

Mit dieser Inszenierung hat das ROF alle 39 Opern von Gioachino Rossini mindestens einmal aufgeführt. Um das Festival brauche man sich dennoch, so die Mailänder Musikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Leiterin der Fondazione Rossini Ilaria Narici keine Sorgen machen. Die kritische Edition der Werke Rossinis sei ein work in progress. Ältere Editionen wie etwa die von Matilde di Shabran kämen nach neuen Erkenntnissen erneut auf den Prüfstand. Da gäbe es für das Festival noch viel Arbeit. Ganz zu schweigen von der Rolle der Regie bei den Inszenierungen, die immer auch den sich wandelnden Zeitgeist widerspiegele.

Im kommenden Jahr 2024, wenn Pesaro sich mit dem Titel einer italienischen Kulturhauptstadt schmücken kann, stehen u. a. Neuinszenierungen von „Bianca e Falliero“ und „Ermione“ auf dem Programm sowie eine Wiederaufnahme des „Barbiere di  Siviglia“. Dazu eine mit Stars bestickte Darbietung von „Il viaggio a Reims“ 40 Jahre nach der bahnbrechenden Aufführung unter der musikalischen Leitung von Claudio Abbado. Dann wird endlich auch das Teatro Rossini nach den Erdbebenschäden ebenso wieder zugänglich sein wie der zu einem Musikpalast umgebaute Sportpalast im Zentrum von Pesaro, und man muss nicht länger in eine vorstädtische Baskettballarena ausweichen. Viva il ROF!

Adelaide di Borgogna. Mit u.a. Varduhi Abrahamyan (Ottone), Olga Peretyatko (Adelaide), Riccardo Fassi (Berengario). Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Dirigent: Francesco Lanzillotta. Regie: Arnaud Bernard. Neuproduktion 2023

Eduardo e Cristina. Mit u.a. Enea Scala (Carlo), Daniela Barcellona (Eduardo), Anastasia Bartoli (Cristina).  Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Dirigent Jader Bignamini. Regie: Stefano Poda.  Neuproduktion 2023

Aureliano in Palmira. Mit u.a. Alexey Tatarintsev (Aureliano), Sara Blanch (Zenobia), Raffaella Lupinacci (Arsace). Orchestra Sinfonica G. Rossini, Dirigent George Petrou. Regie: Mario Martone. Wiederaufnahme von 2014

Info: rossinioperafestival.it