„EIN GROLLEN – UND DIE WELT IST EINE ANDERE“


Gastautor Carl Wilhelm Macke im Gespräch mit Esther Kinsky anlässlich der italienischen Edition ihres Romans „Rombo“

Eine Anwohnerin bei ersten Räumungsarbeiten in ihrem Heimatdorf – Im Frühjahr und im Herbst 1976 wurde die italienische Region Friaul-Julisch Venetien durch mehrere Erdbeben erschüttert. Mehr als 100.00 Menschen in 77 Gemeinden waren von den Zerstörungen betroffen.

Mailand ­– Der Mailänder Verlag Iperborea hat gerade Esther Kinskys Roman „Rombo“ in der italienischen Übersetzung von Silvia Albesano  veröffentlicht. Die vielstimmige Erinnerung an die schweren Erdbeben, die 1976 mehrfach das Friaul erschütterten, war im Original vergangenen Herbst bei Suhrkamp erschienen und von der Kritik teils überschwänglich gelobt worden. Auch die ersten italienischen Reaktionen (u. a. Tutto Libri/La Stampa, La Letteratura/Corriere della Sera) waren positiv. Esther Kinskys Roman gehört außerdem zusammen mit Arbeiten von Emmanuel Carrère (Frankreich), Johanne Lykke Holm (Schweden)  Andrei Kurkov (Ukraine) und Burhan Sömez (Türkei) zur Endauswahl des X. Premio Strega Europeo, der am 21. Mai auf dem Salone Internazionale del Libro verliehen wird. Aus Anlass der italienischen Ausgabe von „Rombo“ sprach der Publizist Carl Wilhelm Macke (München/Ferrara) mit Esther Kinsky.

© Suhrkamp/Heike Steinweg

Schriftstellerin und Übersetzerin: Esther Kinsky (1956), vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kleist-Preis 2022

Über Erdbeben gibt es viele historische, naturwissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen. Es erstaunt aber, dass ein so großes, im wörtlichen Sinn erschütterndes Naturereignis wie ein Erdbeben bislang so selten in der Prosaliteratur Beachtung gefunden hat. Was hat Sie angestoßen, einen Roman wie „Rombo“ über das große Erdbeben im September 1976 im Friaul zu schreiben?

Esther Kinsky: „Als ich 2018 hier in die Gegend bei Udine kam, wurde mir bald klar, wie präsent das Erdbeben in der Erinnerung der Menschen ist. Man braucht keine Fragen zu stellen, – das Thema fließt von selbst in die Gespräche ein. Aber dabei fühlte ich mich eher außenstehend und ahnungslos. Mich interessierte schon dieser Anteil am sozialen und kulturgeschichtlichen Gewebe, aber noch nicht auf die Weise, dass ich mir eine Annäherung über das Schreiben zugetraut hätte. Dieser Durchbruch, wie ich es mal dramatisch nennen würde, kam dann beim Anblick des Freskorestes in der Kirche von Venzone, diesem übrig gebliebenen und für das eigentliche Fresko ganz unwesentlichen Streifen, der auch auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe abgebildet ist und Gegenstand des allerletzten Kapitels von ‚Rombo‘ ist. Ich wusste zufällig, dass es sich bei den eingeritzten Zeichen und Buchstaben um ‚Signaturen‘ von Pilgern handelte, die über Jahrhunderte ihr Zeichen hinterließen. Dass ausgerechnet dieser Teil überlebt hatte und nun an so prominenter Stelle in der Apsis hing, hat für mich alles in Gang gebracht. Es ist ein Dokument der Sehnsucht des Menschen, im Gedächtnis zu bleiben, aber auch ein überwältigendes Dokument des Eingriffs des Erdbebens und eine permanente Erinnerung daran, ein permanenter Gedenkaufruf.

Hinzu kam dann meine Bekanntschaft mit den östlichen Seitentälern des Flusses Fella, Teil der ‚Italia Slava‘ und in Stimmung und Kultur völlig anders als die karnische Gegend östlich des Flusses. Mich interessierte die Musik, diese verkümmernde, aber immer noch gesprochene Sprache, diese Randzone. Eine italienische Marginalie, so wie der Freskorest eine Marginalie war, aber eben auch überwältigend, weil das Erdbeben dort einen so massiven Eingriff dargestellt hatte.“

„Rombo“ ist ein Roman und keine historisch detailgetreue Recherche. Trotzdem ist man neugierig, wie Sie die Vorarbeiten für diesen Roman organisiert haben. Wie konnten Sie Kontakt zu Menschen aufnehmen, die das Erdbeben persönlich erlebt haben?

Esther Kinsky: „Auf die Menschen und ihre Erdbebenerinnerungen trifft man, wie gesagt, überall. Die Leute scheuen sich auch nicht, davon zu reden, erst recht nicht, wenn man sie dazu ermuntert. So habe ich sehr viele Geschichten zu hören bekommen. Die Frage war eher, wie ich mit dem vielen Material umgehen sollte, ohne mich selbst ausnutzerisch zu fühlen. Wie konnte ich diese vielen Einzelfäden in etwas verweben, das ‚authentisch‘ wirkte, ohne dass sich ein Individuum ‚verwertet‘ fühlen konnte. Über meinen Überlegungen kam der erste Lockdown, und ich saß lange Zeit ganz alleine hier, mit meinem Material, dem Internet und – ein großer Glücksfall – einer Kiste mit Büchern über die Gegend, die mich interessierte – zur Verfügung gestellt von einem emeritierten Ethnologen aus Udine und vermittelt durch eine Freundin am Ort, die berufsbedingt unterwegs sein durfte. Während ich las und meine Notizen durchging, nahmen die einzelnen – fiktiven – Stimmen Gestalt an, die eigentlich ein Chor aus vielen verschiedenen Stimmen sind, die ganz unterschiedlich viel zu den Notizen beigetragen haben.“

Ihre Bücher sind vordergründig immer genau lokalisierbar. Im Roman „Am Fluss“ gehen Sie entlang eines wenig bekannten, wenig spektakulären  Seitenarms der Themse. Ein längerer Teil des Romans „Hain“ ist dem im Winter nebligen, grauen Po-Delta gewidmet, das in keiner Tourismus-Werbung für Bella Italia zu finden ist. Im Mittelpunkt Ihres neuen, im Frühjahr 2023 bei Suhrkamp erscheinenden Romans „Weiter sehen“ steht ein altes Kino in der ungarischen Provinz. In „Rombo“ führen Sie die Leserinnen und Leser zurück in die Bergregionen des Friaul, die im Jahr 1976 von einem starken Erdbeben erschüttert wurden. Das  zentrale, alle Romane verbindende Moment scheinen letztlich aber weniger die Orte zu sein, sondern der Versuch, für  gemeinsam erlebte Katastrophen und Verluste eine Sprache zu finden, in der man sich ihrer erinnert? Und warum widmen wir unsere Aufmerksamkeit immer nur auf die „Schönheit“ und „Vollkommenheit“ einer Landschaft und nicht auf die  „Zerstörung“ und die „Fadheit“ einer Gegend?

Esther Kinsky: „Ja, natürlich geht es in der Tat um Erinnerung, das ist das Thema des Buches. Wie erinnert man sich, wie sehr bedingt die persönliche Geschichte die Art der Erinnerung. Interessant war für mich als Außenstehende der gemeinsame Nenner der Erinnerung an das Geräusch, das vor allem in den Bergtälern sehr bedrohlich geklungen haben muss. Deshalb heißt das Buch auch so. Und dieses Geräusch ist der einzige wirkliche gemeinsame Nenner. Ein Grollen – und die Welt ist eine andere. Aber wie sie anders ist, das unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Ich habe mich sehr viel und lange mit Fragen posttraumatischer Erinnerung beschäftigt, in der es Täter und Opfer gibt. Aber bei einer Naturkatastrophe – außer sie ist wie etwa die Flutkatastrophe 2021 in Deutschland menschlichen Fehlern zuzuschreiben, – gibt es keine Täter, nur Opfer. Wie redet man dann darüber? Interessant ist, dass es dann doch irgendwann ein Bedürfnis nach Schuldzuweisung gibt, und im weiteren Friaul ist es auch zu tatsächlich verschuldeten Tragödien gekommen, etwa mit dem Kollaps von neu errichteten, vorschriftswidrig erbauten Wohnblocks. Aber das betraf nicht diese Bergtäler. Das Bedürfnis nach Schuldzuweisungen verlagerte sich dann mehr in die Nachwehen, die säumigen Hilfsgelder, die Ungerechtigkeiten bei der Verteilung, die Zerstörung einer ganzen Gesellschaft und Lebensform durch das schließlich eintröpfelnde oder – schwappende Geld.“

Könnte es sein, dass „Rombo“ außerdem eine Metapher für ein „Zeitenbeben“ ist, das in diesen Jahren unsere Weltwahrnehmung erschüttert? Versuchen Sie nicht über das literarische Erfassen einer großen Naturkatastrophe auch Wörter und Bilder für die bereits eingetretenen oder uns noch bevorstehenden epochalen Katastrophen zu finden? Ich habe jedenfalls das Buch auch immer in diesem zeithistorischen Kontext gelesen.

Esther Kinsky: „Ich wünsche mir immer, dass nichts, was ich schreibe, so gelesen wird, als hätte ich es als Metapher intendiert. Das liegt mir völlig fern. Ich glaube, jeder Leser und jede Leserin wird sich die eigene Lesart finden und mag das Gelesene auf andere Kontexte anwenden. Dafür ist die Kunst ja da. Jedes Stück Kunst ist eine neue Welt für sich, die sich aber nicht von bestimmten Regeln der Welt, aus der sie entstanden ist, befreien kann und deshalb immer als Metapher oder Metaphern lesbar ist. Wir leben auf einem Boden, der das Ergebnis einer unaufhaltsamen Folge von Katastrophen wie Erdbeben, Fluten, Kometeneinschlägen usw. ist. Der kleine dumme Mensch, der ja im Übrigen sehr eifrig bemüht ist, sich durch Eigenbau-Katastrophen selbst abzuschaffen, hat anderen Wesen diese Fähigkeit zum Metaphorischen voraus, aber sieht oft nicht das Näherliegende, Konkrete, Direkte. Was mich interessiert, ist die Sprache. Die Sprachen, die der Mensch zur Benennung der Welt ersinnt und in diesem Rahmen auch die Sprachen der Erinnerung.“

Die italienische Übersetzung von „Rombo“ erscheint über zehn Jahre nach dem letzten größeren Erdbeben in der Emilia und – was aktueller ist – in dem Jahr des großen Erdbebens im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien. Was ist Ihnen außer dem von allen geäußerten Mitgefühl mit den Opfern dieser Katastrophe durch den Kopf gegangen, als sie die ersten Nachrichten, die aus der Türkei und Syrien vernommen haben?

Esther Kinsky: „Ja, dieses grauenhafte jüngste Erdbeben der Türkei und Syrien kommt jetzt manchmal auch zur Sprache, wenn es um mein Buch geht, obwohl ich da wenige Parallelen sehe. Zum einen sind es Dimensionen, die nicht mit dem Erdbeben hier vergleichbar sind, weil dieses jetzige Erdbeben eine Region trifft, die ohnehin schon als Konfliktzone und Einzugsbereich einer Konfliktzone völlig aus den Fugen ist und Menschen beherbergt, die schon so vieles durchgemacht haben. Das Erdbeben hier traf eine größtenteils ländliche Bevölkerung in einem dünn besiedelten Gebiet mit traditionellen Lebensformen. Natürlich gab es diese bereits genannten Fälle der Missachtung von Bauvorschriften, denen einigen hundert Menschen zum Opfer fielen, wie es sie – verzehnfacht – auch jetzt gibt. Doch Katastrophen lassen sich nicht quantitativ erfassen. Ich möchte nicht sagen, dass ein Erdbeben mit 1500 Toten weniger wichtig ist als eines mit 50 000, aber das Elend, in das das Beben in Türkei/Syrien stößt, ist unendlich viel größer. Ein wirklich unfassbarer Unterschied besteht auch darin, dass man es in Europa allen Ernstes ausdrücklich wagt, einer möglichen Katastrophenmigration vorbeugen zu wollen. Die Schamlosigkeit und Schande solcher Gedanken und Aussagen gab es 1976 nicht.“

„Rombo“ ist nach „Hain“ Ihr zweites Buch, das in Italien lokalisiert ist. Was fasziniert Sie an diesem Land oder erschreckt Sie auch so sehr, dass Sie ihre jüngsten Bücher in diesen italienischen Kontext stellen?

Esther Kinsky: „Ich hab ein beiden Fällen mir nicht Italien als Hintergrund ausgesucht, sondern es hat sich mir aufgedrängt. Zwischendurch ist zum Beispiel auch ein Buch erschienen, in dem es um die Schieferinseln in Schottland geht. Mein Ausgangspunkt des Schreibens ist immer und überall meine Beschäftigung mit dem sogenannten gestörten Gelände, mit Peripherie, mit Dingen, die nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. ‚Hain‘ ist aus einem längeren Aufenthalt in Italien entstanden, der auf einen großen persönlichen Verlust folgte. Ich hatte ein Aufenthaltsstipendium, das zufällig, möchte ich sagen, in Italien stattfand. Wäre es in Albanien oder in der Türkei gewesen, hätte ich wahrscheinlich dort etwas gefunden. Die persönliche Verfasstheit bestimmt den Blick. Trauernd findet man Trauerlandschaften. In Italien kam nun für mich noch hinzu, dass ich durch meinen sehr italienfixierten Vater viele nicht konventionelle Kindheitserinnerungen an das Land hatte, in dem ich bis zu meinem Aufenthaltsstipendium Jahrzehnte nicht gewesen war. Dieses Erinnerungselement hat für einen ganz anderen Zugang gesorgt, als es etwa in Albanien gewesen wäre. Aber bei meiner Entscheidung für das Friaul habe ich gar nicht im Italien-Kontext gedacht. Als passionierte Anti-Nationalistin denke ich regional, und mich hat diese – im übrigen sehr schwierige – Region hier fasziniert, seit Jahrtausenden Transitgegend, zwischen den Hindernissen von Gebirge und Meer, geprägt von Migration, von hin- und herwogenden Grenzverläufen, steiniges, gestörtes Gelände par excellence, dazu noch schön. Und traurig. Was will man mehr?

Esther Kinsky: Rombo. Traduzione: Silvia Albesano. Iperborea, Milano 2023, 288 pagg., 18 €

Die deutsche Ausgabe von Rombo (siehe auf Cluverius „Italienische Erschütterungen“) ist 2022 bei Suhrkamp erschienen.

Zur Person von Carl Wilhelm Macke siehe hier.