Zwei Autorinnen und ein Autor des Jahres 2022: Esther Kinsky, Giulia Caminito und Emilio Lussu. Tipps auch für Geschenke
Mailand – Drei Bücher aus (bzw. über) Italien fallen aus dem breiten Angebot der Titel des Jahres 2022 heraus. „Rombo“ von Esther Kinsky, „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito (Übersetzung von Barbara Kleiner) und „Marsch auf Rom und Umgebung“ von Emilio Lussu (Nachwort und Übersetzung von Claus Gatterer). Es geht um unser Verhältnis zur Natur, zur Gesellschaft, zu Politik und Geschichte. Es sind drei Bücher, in denen Erinnerung eine Hauptrolle spielt. Drei Bücher, in denen Genres sich mischen. Drei Bücher, die zu lesen (und zu verschenken) sich lohnt.
Esther Kinsky (geboren 1956 im Rheinland) lebt als Übersetzerin und Autorin in Wien und im Friaul. Ein Ort im Friaul steht im Mittelpunkt ihres Buches „Rombo“. Aus den Erinnerungen von Anselmo oder Lina, von Mara oder Toni, von sieben Frauen und Männern aus einem Dorf am Rand der Staatsstraße 13 unterhalb des Monte San Simeone rekonstruiert sie die Zeit der beiden schweren Erdbeben, die im Mai und im September 1976 die Landschaft im nordöstlichen Italien erschütterten. Viele Hundert Menschen fanden dabei den Tod, Zehntausend wurden obdachlos. Erinnerungen werden wach an Traditionen und Alltag vor dem Beben, an das Erleben der Katastrophe und die sozialen Erschütterungen danach. Lina erzählt zum Beispiel, wie sie von ihrer Oma die Namen der Berge gelernt hatte. „Zu jedem Namen gab es eine Geschichte. Und zu jeder Geschichte gehörte ein Unglück. In den Geschichten war es immer so, als säßen die Menschen hier in unserem Tal wie festgewachsen auf dem weißen Stein dieser Berge und Hänge, um auf ihr Unglück zu warten.“ Fatalismus, Träume, Wünsche mischen sich mit Hoffnung auf ein neues Lieben hier oder doch weiter unten im Tal, vielleicht sogar an der Küste der Adria.
„Eine brüchige Erzählung“
Die Autorin macht es ihren Lesern nicht leicht. Geradezu spröde erzählt sie, mischt Beobachtungen der Natur mit geologischen Texten. Und doch bildet sich so eine Poetik heraus, die wie ein Grundbass all die Versatzstücke des Buches zusammenhält, „eine brüchige Erzählung aus angedeuteten, von der Zeit verschlüsselten Bildern, die vom Erinnern als Aufgabe handeln“. Eine Erzählung auch von einem brüchigen Verhältnis von Mensch und Natur. (Über Esther Kinsky siehe auf Cluverius: „Mich interessiert der Rand mehr als das Zentrum“)
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Giulia Caminito (geboren 1988 in Rom) erzählt in „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von der Schülerin Gaia, die mit ihrer Familie in einer Sozialwohnung in der römischen Provinz (am Bracciano See) aufwächst. Unsentimental schildert sie die prekären Lebensumstände und den Versuch, ihnen über eine bessere Schulbildung zu entfliehen. Ein Buch, in denen Frauen (fast) alle starken, schwachen, lieben, bösen Rollen in einer (mit Ausnahmen) eher kläglichen Männerwelt besetzen. Es entwickelt sich eine Geschichte, „die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt“, wie die Autorin in einem Nachwort schreibt. Ihr eigenes Leben gehört dazu, auch wenn das Autobiografische nicht mehr als eine Folie ist. Eine Geschichte jedoch mit „Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe“. Entwicklungsroman, Sozialstudie und Novelle von Liebe und Freundschaft mischen sich.
Bittere Komik
Dieses narrative Amalgam lebt von dem Reichtum konkreter Erfahrungen, kreativer Erweiterungen und in einer mitreißenden Erzählung, die unter die Haut geht. Und die zugleich voller ursprünglicher, manchmal bitterer Komik steckt. Etwa in dem literarischen Slapstick, mit dem Giulia Caminito bei einer Weihnachtsfeier in Gaias Familie über mehrere Seiten die Öffnung einer Pandoro-Packung beschreibt. Eine szenografisch-groteske Schilderung, für die allein die Autorin einen Preis verdient hätte. Und die vielleicht kein Zufall genau in der Mitte des Romans zu finden ist. Dass diese Szene wie überhaupt der ganze Roman in der deutschen Ausgabe Kraft entfalten kann, ist der Übersetzerin Barbara Kleiner zu danken. (Über Giulia Caminito siehe auf Cluverius auch „Eine andere Welt“)
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Emilio Lussu (1890 – 1975) stammte aus Sardinien. Als Offizier im Ersten Weltkrieg, als Abgeordneter und führende Persönlichkeit der Resistenza (Mitgründer der Widerstandsgruppe „Giustizia e Libertà“) im Faschismus, als Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung der Republik Italien nach dem Krieg und sozialistisch orientierter Politiker bis in die 1960er-Jahre war Lussu ein herausragender Zeitzeuge der Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Und er wurde – wie er sich selbst einmal genannt hatte – als „Literat wider Willen“ auch mit mehreren Büchern zum Chronisten jener Epoche. In dem Band „Marsch auf Rom und Umgebung“ schildert er nicht nur die Machtergreifung Mussolinis 1922. Sondern er gibt einen „Bericht“ (so der Untertitel) der Jahre 1919 bis 1929. Der reicht vom Aufkommen des Faschismus, seine Festigung und schließlich seine Ausformung zu einer brutalen Diktatur. Aber was für ein Bericht! Das ist keine wissenschaftlich-historische Abhandlung, auch wenn es fundierte Analysen liefert. Keine Autobiografie, auch wenn es sich auf Episoden aus dem Leben des Autors gründet. Kein Roman, auch wenn man das Buch wie eine spannende Erzählung liest.
Salz in offenen Wunden
Lussu schreibt es 1932 im französischen Exil, nachdem ihm die Flucht aus der Verbannung von der Insel Lipari gelungen war. Er setzt sich (oft satirisch) mit der Faschisierung der Gesellschaft auseinander, mit der Schwäche der Institutionen. Im Gegenschnitt dazu machen die Szenen der blinden, absurden Gewalt, die er hervorruft, betroffen. Frei von Selbstmitleid erzählt er vom Leben der auf Lipari Verbannten. Und mit viel Spott widmet er sich all den Wendehälsen, ehemaligen Freunden und Gesinnungsgenossen, die zu den Schwarzhemden überliefen. Lussu habe die Wahrheit immer beim Namen genannt, schrieb der Südtiroler Publizist Claus Gatterer (1924-1984), der das Buch in einer ersten Ausgabe 1971 auch übersetzt hat. „Seine Ironie brennt wie Salz in offenen Wunden.“ Der Folio-Verlag (Wien/Bozen) hat gut daran getan, diese Ausgabe jetzt zum 100. Jahrestag der Machtergreifung Mussolinis wieder aufzulegen. Gerade jetzt, wenn in Italien eine weit rechts stehende Partei die Regierungsgeschicke bestimmt, ist es wichtig, sich an den Faschismus zu erinnern, aus dessen Überwindung das republikanische Italien hervorgegangen ist.
Esther Kinsky: Rombo. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin (2022). 268 Seiten, 24 Euro (Der Titel erscheint im März 2023 auch auf Italienisch bei Iperborea)
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (2022). 320 Seiten, 26 Euro
Emilio Lussu: Marsch auf Rom und Umgebung. Ein Bericht. Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Claus Gatter. Folio Verlag Wien/Bozen (2022). 271 Seiten, 25 Euro