Wundervoll erzählt, berührend zu lesen: Der Roman „Ein Tag wird kommen“, in dem Giulia Caminito von einer Bruderliebe in der bäuerlichen Landschaft der Marken vor 100 Jahren zur Zeit von Krieg und Krankheit erzählt.
Mailand – Unter den Romanen und Erzählungen, die in diesem schrägen Herbst und Winter in deutscher Übersetzung aus dem Italienischen erschienen sind, ist das vielleicht der schönste: Ein Tag wird kommen von Giulia Caminito (Verlag Klaus Wagenbach). Er führt uns in die Anfangsjahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts und in die von Hunger und Ausbeutung geprägte bäuerliche Landschaft der Marken, wo Tragödien zum Alltag gehören. Und zu Träumen einer anderen, besseren Welt, die mal aufs Leben und mal auf die Zeit nach dem Leben gerichtet sind. Hauptfiguren sind zwei ungleiche Brüder aus dem Dorf Serra de’ Conti: Der eine, Lupo, mutig und kraftvoll, der andere, Nicola, schwach und „weich wie Brotkrume“. Und während der eine den anderen stützt, gibt ihm der andere Sinn.
Dann gibt es noch Zari, die aus dem Sudan stammt und die im Dorf alle als „die Moretta“ kennen. Sie wird Ordensschwester, Suor Clara, und schließlich zur Äbtissin des Nonnenklosters oberhalb von Serra berufen. Ihre Geschichte verbindet sich mit jener der beiden Brüder, von denen Lupo im Anarchismus ein Weg zur Gerechtigkeit zu finden glaubt und Nicola an seiner Schwäche wächst. Religiöse Gefühle treffen in der kleinen Welt von Dorf, Hügel und Wälder auf politische Überzeugung und Suche nach Veränderung.
Giulia Caminito betreibt in Rom mit anderen Frauen eine kleine Verlagsagentur. 2017 machte die damals 29jährige mit ihrem ersten Roman La Grande A, einer Geschichte aus dem Umfeld des italienischen Kolonialismus, auf sich aufmerksam. Un giorno verrà („Ein Tag wird kommen“) erschien 2019 bei Bompiani. In einem Nachwort erzählt die Autorin wie der Roman aus der Suche nach der Geschichte ihres Urgroßvaters entstanden ist, der aus Serra de’ Conti stammte. Ein Anhänger der Anarchisten, der Italien verließ und dessen Spuren sich schließlich in Deutschland verlieren. Dabei stieß sie auch auf das Kloster von Serra und auf das unglaubliche Leben jener Figur, der sie in ihrem Roman als Suor Clara ein Denkmal setzt. Sie weist aber darauf hin, dass es in dem Buch trotz gründlicher Recherchen in Archiven wie vor Ort „nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen“ gibt.
Anarchie und Spanische Grippe
Geschichten in der Vergangen zu suchen, sagte sie in einem Interview mit der Zeitschrift Il Libraio (siehe hier), sei für sie „eine Art, die Aktualität zu untersuchen.“ Die Autorin verwebt dabei ihre lokalen Geschichten mit denen der Zeit. Mit sozialen Folgen der Halbpacht, mit politischen Unruhen wie der Settimana Rossa in Ancona 1914, mit dem ersten Weltkrieg, mit der Spanischen Grippe – die heute ungewollter Aktualität geworden ist –, oder mit dem aufkommenden Faschismus. Das gibt dem Buch eine offene, gesellschaftliche Dimension, welche die gefühlsmäßig geprägte Handlung nicht im Sentimentalen ersticken lässt. Aber manchmal spürt man doch die stark konstruierende Hand der Autorin, wenn die literarische Figur Lupo bei der Settimana Rossa sich mit einer realen Figur anfreundet, die dann, wie es auf einer heute noch zu lesenden Erinnerungstafel heißt, „königlichem Blei“ zum Opfer fällt . Oder wenn Benito Mussolini in Mailand „zufällig“ dem Anarchisten Armando Borghi auf der Straße begegnet, na wo wohl – auf der Piazza Duomo.
Doch wird man anschließend gleich wieder in den Text hineingezogen, von der magisch einfachen Sprache, ihrer neorealistischen Anmutung, die an Italo Calvinos „Wo Spinnen ihre Nester bauen“ erinnert und die Barbara Kleiner so wundervoll im Deutschen wieder gibt. Und von der Geschichte, ihren Überraschungen, ihrem anrührenden Ausklang, einem Ton der Hoffnung, den man Dank Giulia Caminito und „Ein Tag wird kommen“ heute noch zu vernehmen glaubt.
Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 272 Seiten, 19,90 Euro