70 Jahre Piccolo Teatro: Ein „Theater für alle“ wollte Giorgio Strehler mit der Gründung 1947 schaffen. Heute versucht das Haus unterschiedliche Publikumsgruppen anzusprechen – mit politischen Stücken, experimentellem Theater und einer neuen Hinwendung zu erzählerischen Texten.
Mailand – Als die Stadt nach dem Krieg und schwerer Zerstörung durch Bombenangriffe der Alliierten einen neuen Anfang zum alltäglichen Leben suchte, wurden zuerst die Kultureinrichtungen wieder hergestellt, manche wurden sogar erst geboren. Im Mai 1946 eröffnete Arturo Toscanini die Scala und ein Jahr später nahm das von Giorgio Strehler, Paolo Grassi und Nina Vinchi neu gegründete Piccolo Teatro in den umgebauten Räumen eines Kinos sein Programm auf. Es begann im Mai 1947 mit Gorkis „Nachtasyl“, dem im Juni Goldonis „Diener zweier Herren“ folgte. Aber was ist von der Aufbruchstimmung eines „Theaters der Kunst für alle“ geblieben? Wie hat sich die Bühne nach dem Tod von Giorgio Strehler vor fast 19 Jahren entwickelt und welche Rolle möchte sie heute spielen?
Viele Sprachen konnte man in diesen Wochen auf der Bühne des Piccolo Teatro hören. Aufführungen aus Frankreich, aus China und aus Deutschland waren zu Gast. Shakespeares Richard III. in der Inszenierung der Schaubühne am Lehniner Platz war mit anderen eingeladen, die Gründung des Piccolo Teatro vor 70 Jahren zu feiern. Der damals 26jährige Regisseur Giorgio Strehler und sein kaum älterer Mitstreiter, der Organisator Paolo Grassi, wollten mit dem Aufbau der Mailänder Bühne durch eigene Produktionen als „Teatro stabile“ die italienische Theaterszene nach Faschismus und Krieg erneuern. Einerseits mit Stücken internationaler Autoren von Shakespeare über Gorki bis Brecht, anderseits durch die Wiederbelebung der Tradition der Commedia dell’Arte. „Diener zweier Herren“ steht als eine Art Museumsaufführung auch jetzt wieder auf dem Spielplan.
Unterschiedliche Altersgruppen
Der Ansatz von Strehler und Grassi war pädagogisch und politisch zugleich. Das Theater galt ihnen als Ort, wo eine Gemeinschaft sich wieder erkennen sollte. Seit dem Tod von Giorgio Strehler Ende 1997 führt der Kulturmanager Sergio Escobar die Bühne. Ihm zur Seite stand der vor zwei Jahren verstorbene künstlerische Leiter Luca Ronconi. Heute nennt Escobar das Theater einen Ort, wo Leute sich vor allem selbst erkennen und sich mit neuen Ideen konfrontieren wollen. Strehlers Leitsatz von einem „Theater für alle“ müsse sich inzwischen an der Fragmentierung des Publikums in unterschiedliche Altersgruppen mit unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen messen.
So sorgte etwa Emma Dante, die aus der freien Szene kommt, kürzlich mit einer Produktion über die Arbeit des Schauspielers („Bestie di scena“ – siehe auch auf Cluverius „Gestern Im Theater“) für ausverkaufte Vorstellungen. Ein radikales Theater über eine Gemeinschaft auf der Flucht, das sich ganz auf Körperlichkeit stützt. So unterschiedliche Charaktere wie Dario Fo, Robert Wilson oder Lev Dodin haben hier inszeniert. Am Piccolo wurden seit 1947 Stücke in 30 verschiedenen Sprachen gezeigt. Für viele Besucher aber auch für Theatermacher in aller Welt ist das Haus eine Legende.
Die lokale und die globale Dimension
Sergio Escobar: „In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich das Piccolo, angefangen von der letzten Zeit unter Strehler und dann unter Ronconi von Aufführungen gelöst, die etwas lehren wollten, und Formen gesucht, die die Fragen aufgreifen, welche gegenwärtig die Welt bewegen. Früher ging es um einen demokratischen Prozess innerhalb einer städtischen Dimension, vielleicht noch angeregt durch künstlerisch verwandte europäische Länder. Jetzt müssen wir uns an den Themen der Welt messen.“
Ein Theater in der Stadt Mailand, die mit über 20 Prozent Ausländer an der Wohnbevölkerung die internationalste Stadt von Italien ist, kann sich dieser globalen Dimension nicht entziehen. Sie spiegelt sich etwa im Flüchtlingsdrama, das im vergangenen Jahr eine Inszenierung der „Dreigroschenoper“ prägte. Oder in der Wirtschaftskrise, die vom Bankenkrach der Lehmann Brothers ausgelöst wurde. Stefano Massini hat dazu das Stück „Lehman Triology“ geschrieben. Das wurde zur letzten Regiearbeit von Luca Ronconi und feierte auch in der jetzt zu Ende gehenden Spielzeit einen großen Erfolg. Global auch die Musikabende mit Ute Lemper, die Lieder aus den Konzentrationslagern sang („Songs of Eternity“).
Das Theater und die Briefmarke
Der 41jährige Stefano Massini hat die Nachfolge von Luca Ronconi als künstlerischer Berater des Piccolo angetreten und damit einen Generationswechsel eingeleitet. Von ihm stammen auch Stücke wie „Sieben Minuten“ über eine Betriebsversammlung. Es geht darum, dass die Firmenleitung ein Angebot gemacht hatte, die Arbeitsplätze zu garantieren, wenn die Belegschaft einer Kürzung der Pausen um 7 Minuten zustimmen würde. Zum 70. Gründungsjubiläum des Piccolo Teatro ist auch eine Briefmarke herausgekommen. Allerdings ist die Post auf ihren Ämtern längst dazu übergegangen, Briefe mit Stempeldruck zu versehen.
Stefano Massini: „Ich möchte nicht, dass das Theater wie eine Briefmarke wird. Schön, prestigeträchtig, aber langsam aus dem Alltag verschwindend. Ein Theater muss sich im Alltag wiederfinden, Wege zur Sprache der Menschen suchen, eine Sprache sprechen, die ihnen nützt.“ Das sei das Konzept für ein Theater der Gegenwart in der Epoche des Internet, was das Piccolo auch in der kommenden, der Jubiläumsspielzeit umsetzen möchte. Unter anderem mit einer Theaterfassung von Elio Vittorinis Widerstandsroman „Uomini e no“ („Dennoch Menschen“) in der Regie von Carmelo Rifici. Oder mit einem neuen Stück von Stefano Massini über Freuds Traumdeutungen (Regie: Federico Tiezzi).
Die bedeutendste italienische Sprechbühne
Die Aufgabe eines öffentlichen Theaters, so auch Intendant Sergio Escobar, sei es, über die Kraft des Wortes nachzudenken in einer Zeit, in der Sprache im Feuerwerk von Werbung und Medien misshandelt wird und sich dabei entleert.
Heute kann das Haus als bedeutendste italienische Sprechbühne auf eine 70jährige Tradition zurückblicken und sich dabei über wachsende Beliebtheit freuen. Es gibt 25.000 Abonnenten, zu den Aufführungen in den drei Spielstätten des Piccolo kommen im Jahr rund 300.000 Menschen und etwa die Hälfte des Publikums gehört zur Altersgruppe unter 26 Jahren. Gespielt wird im Hauptsitz, dem Teatro Strehler ( 900 Plätze) sowie auf der traditionellen Bühne, heute Teatro Grassi ( 400 Plätze) und dem Teatro Studio Melato (400 Plätze) im ehemaligen Teatro Fossati. Das Piccolo wird von der öffentlichen Hand unterstütz und kann sich etwa 50 Prozent seines Haushaltes von rund 20 Millionen im Jahr selbst erwirtschaften. Zum Piccolo gehören eine Schauspielschule (Scuola Teatro Luca Ronconi) und im Hof des Teatro Grassi ein Theater-Café und eine Buchhandlung.
Info: www.piccoloteatro.org
Zum Thema hat auch der Deutschlandfunk (Kultur heute) am 31.5.2017 einen Beitrag gesendet