„WIR MÜSSEN SANFT IRONISCH SEIN“


Zwei Eigenproduktionen des Piccolo Teatro „Ho paura torero“ und „Come tremano le cose riflesse nell’acqua (čajka)“, mit denen die Mailänder Bühne ins neue Jahr gestartet ist, gehören zu den Höhepunkten dieser Spielzeit

© MasiarPasquali/Piccolo Teatro

Im Spiegel der Gesellschaft: Lino Guanciale als „Fata dell’angolo“ in „Ho paura torero“ nach einem Roman des Chilenen Pedro Lemebel in der Inszenierung von Claudio Longhi

Mailand – Das Piccolo Teatro Milano hatte in der vergangenen Saison versucht, mit seinen Aufführungen die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Darstellung zu durchleuchten. In der gegenwärtigen Spielzeit 23/24 geht es um „Il corpo delle parole“ also um die Körperlichkeit der Sprache auf der Bühne. Wobei u. a. der Dialog mit der Literatur, etwa mit der Welt des Romans, gesucht wird. Aber auch die Auseinandersetzung mit der dem Theater eigenen Dramaturgie von der Klassik bis hin zu kritischen Neuerfindungen des 20. Jahrhunderts. Mit zwei Inszenierungen hat die Mailänder Bühne gerade diesen Ansatz eindrucksvoll unterstrichen: Ho paura torero („Torero, ich habe Angst“) von Pedro Lemebel und Come tremano le cose riflesse nell’acqua (čajka) („Wie zittern die sich im Wasser spiegelnden Dinge“) eine Bearbeitung von Tschechows „Die Möwe“ durch Liv Ferracchiati.

Ho paura torero basiert auf einem Roman des chilenischen Performancekünstlers Pedro Lemebel (1952-2015), der von der Liebesbeziehung zwischen einer Dragqueen und einem Guerilla Aktivisten, zwischen der Fata dell’angolo („Fee von der Ecke“) und Carlo zur Zeit der Diktatur von Pinochet erzählt. Auf Grundlage der Dramaturgie von Lino Guanciale lotet Piccolo-Direktor Claudio Longhi in seiner ersten Regiearbeit, nachdem er im Dezember 2020 die Leitung der Mailänder Bühne übernommen hatte, diese „unmögliche“ Liebesbeziehung in der verkitschten Welt des arglosen Transvestiten angesichts einer brutalen Gegenwart überzeugend aus.

Die verletzliche Kraft des Zarten

Die verletzliche Kraft des Zarten hat im Grunde mehr Sprengwirkung als die gewaltsamen Aktionen des Widerstands, weil sie träumerisch Hoffnung geriert. Und der Plüsch der Fata, der von Lino Guanciale als ihr Darsteller wundervoll ausgemalt wird, schneidet sich mit dem lächerlichen Gehabe des alten Diktators und seiner geschwätzigen Ehefrau. (Lemebels chilenischer Roman Tengo miedo torero ist in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp zunächst 2004 und dann überarbeitet unter dem Titel „Torero, ich habe Angst“ 2023 erschienen – hier eine Rezension der tageszeitung.) Der Mailänder Inzenierung durch den Ronconi-Schüler Claudio Longhi gelingt es, – von einigen  Längen im zweiten Teil abgesehen – die sentimentale Entwicklung und das politische Bewusstsein dramaturgisch einleuchtend zusammenzuführen und in dem historischen Hintergrund zu verankern.

© MasiarPasquali/Piccolo Teatro

Mit Blick auf einen See: Liv Ferracchiatis erfrischende Untersuchung von Tschechows „Die Möwe“

Mit Come tremano le cose riflesse nell’acqua (čajka) frei nach Tschechows Komödie „Die Möwe“ setzt Regisseur Liv Ferracchiati seine Untersuchung klassischer Stücke wie zuletzt Ibsens „Hedda Gabler“ fort. Er verlegt die Handlung der Möwe in die Gegenwart und den Ort des Geschehens an ein Anwesen mit Blick auf einen See. Der Titel basiert auf einem Zitat von David Foster Wallace. So blicken wir einerseits mit unseren Augen und in unserer Sprache auf einen ganz frisch und zeitgemäß anmutenden Tschechow und lassen uns anderseits von Tschechow aus die Gegenwart verfremden. Unter weitgehender Beibehaltung des Handlungsgerüsts bindet Liv Ferracchiati die Beziehung Mutter-Sohn an das Thema der Identität. Das Problem der Anerkennung nicht nur als Individuum, sondern auch als Künstler, gehört für die Mutter, die erfolgreiche Schauspielerin am Ende ihrer Karriere, zusammen wie für den Sohn, der von einer Karriere als Schriftsteller träumt, um sich als Mensch selbst zu verwirklichen. Und schließlich damit zu scheitern.  Die vielfältigen Beziehungen um dieses Zentrum der Handlung herum werden von einem brillant agierenden Cast umgesetzt.

Mehrfach preisgekrönt

 Der 38-jährige Transgender Liv Ferracchiati ist einer der interessantesten Figuren der jungen Generation der italienischen Theaterszene (hier in einem Interview mit dem Corriere della Sera). 1985 im umbrischen Todi geboren, Studium der Literatur an der Uni Rom, danach Regieausbildung an der Mailänder Theaterschule Paolo Grassi, mehrfach preisgekrönt, wurde er 2017 (mit einer Trilogie zur Identität) zur Theaterbiennale Venedig eingeladen und dort drei Jahre später mit einer Arbeit über Tschechows „Platonow“ erneut ausgezeichnet. 2021 erschien bei Marsilio Editore sein Roman Sarà solo la fine del mondo („Es wird nur das Ende der Welt sein“) über den Körper, der, selbst wenn er gesund, fröhlich und schön ist, als unpassend empfunden werden kann.

Er habe jetzt Tschechow wieder gewählt, sagte Liv Ferracchiati bei der Präsentation des Stücks im Piccolo, weil es sich bei der Möwe nicht um eine Tragödie, sondern um die Komödie des Lebens handele. „Wir müssen sanft ironisch sein und wissen, wie wir über uns selbst lachen können, denn am Ende gibt es keine wirkliche Lösung für das Identitätsproblem.“

Ho paura torero. Von Pedro Lemebel. (Hier zum Trailer) Mit (in alphabetischer Reihenfolge) Daniele Cavone Felicioni, Francesco Centorame, Michele Dell’Utri, Lino Guanciale, Diana Manea, Mario Pirrello, Arianna Scommegna, Giulia Trivero. Regie: Claudio Longhi, Textbearbeitung für die Bühne: Alejandro Tantanian, Dramaturgie: Lino Guanciale, Bühne: Guia Buzzi, Kostüme: Gianluca Sbicca, Licht: Max Mugnai, Visual Design: Riccardo Frati. Piccolo Teatro Grassi (UA: 11.1.2024)

Come tremano le cose riflesse nell’acqua (čajka). Eine Schauspiel von Liv Ferracchiati frei nach „Die Möwe“ von Anton Tschechow. (Hier zum Trailer) Mit (in alphabetischer Reihenfolge) Giovanni Cannata, Roberto Latini, Laura Marinoni, Nicola Pannelli, Marco Quaglia, Camilla Semino Favro, Petra Valentini, Christian Zandonella. Regie: Liv Ferracchiati, Bühne: Giuseppe Stellato, Kostüme: Gianluca Sbicca, Licht: Emiliano Austeri, Video: Alessandro Papa, literarische Beratung: Fausto Marinoni. Piccolo Teatro Studio Melato (UA: 27.1.2024)

 Info: Piccolo Teatro Milano Programm